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02.03.13 / Actionkino mit einem Schuss Wodka / Der ganz normale Verkehrswahnsinn im Osten: Die Kameras in russischen Autos zeichnen nicht nur Meteoriteneinschläge auf

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 09-13 vom 02. März 2013

Actionkino mit einem Schuss Wodka
Der ganz normale Verkehrswahnsinn im Osten: Die Kameras in russischen Autos zeichnen nicht nur Meteoriteneinschläge auf

Sergeij drückt die „Play“-Taste an seinem Aufzeichnungsgerät. „Hier, das habe ich erst gestern aufgenommen“, sagt er. Auf dem kleinen Display seiner Videokamera ist zu erkennen, wie zwei Fußgänger einen Zebrastreifen überqueren. Plötzlich kommt an der Kreuzung ein Fahrzeug um die Kurve geschossen, das um ein Haar die Passanten auf der Fahrbahn streift. Während ihnen der Schrecken ins Gesicht geschrieben steht, sucht der Fahrer unbekümmert das Weite.

Während wir in Moskau im Stau stecken, könne er uns noch weitere solcher Szenen abspielen, sagt Sergej. Natürlich, so etwas Spektakuläres wie den Meteoriten von Tscheljabinsk habe er nicht zu bieten. Die ganze Welt wurde schließlich Augenzeuge, als Mitte Februar der Gast aus dem All über der Stadt am Ural niederging. Obwohl er sich nicht angekündigt und kein professionelles Filmteam auf ihn gewartet hatte, wurde der Meteorit aus allen möglichen Perspektiven filmisch dokumentiert. Es waren Autokameras, wie sie auch Sergej in seinem Wagen installiert hat, die das sekundenlange Ereignis eingefangen hatten. Wenig später wurde das filmische Ergebnis im Internet auf dem Vi­deo­portal „YouTube“ eingestellt. Auf diese Weise konnte die ganze Welt die Bilder von diesem seltenen Spektakel sehen.

Welch ein Galaauftritt bei wolkenlosem Himmel! Hätte sich der Meteorit für ein anderes Land entschieden, dann gäbe es wohl keine Bilder von ihm. Denn dank Autokameras ist die flächendeckende Videoüberwachung in keinem Land so perfekt wie in Russland. „Big Brother is watching you“? Ja, aber nicht, weil es der Putin-Staat so will, sondern weil sich die Autobesitzer vor dem Staat schützen wollen.

„Hier gibt es viele korrupte Polizisten“, sagt Sergej, „deshalb hat fast jeder eine Videokamera im Wagen, die im Notfall die eigene Un­schuld be­wei­sen soll.“

Er selbst sei einmal auf der Landstraße von der russischen Straßen-„Polizia“ angehalten worden, weil er in einem Ort eine rote Ampel übersehen haben soll. „1000 Rubel sollte ich dem Polizisten bar bezahlen, dann sei der Fall vergessen“, erinnert sich Sergei, „als ich auf die Autokamera hinwies, war der Polizist plötzlich superfreundlich zu mir und hat mich weiterfahren lassen.“ Dank Kamera blieb Sergej von einer Strafzahlung verschont.

Experten schätzen, dass mittlerweile in jedem vierten russischen Auto eine solche „Dashcam“ – wie sie nach dem Armaturenbrett, englisch „dash“, genannt wird – installiert ist. Außer als Beweismittel gegen korrupte Polizisten dient sie auch dazu, sich gegen Versicherungsbetrug zu schützen. „Es kommt vor, dass Personen auf die Motorhaube eines stehenden Wagen stürzen und dann behaupten, sie seien angefahren worden“, berichtet Sergej.

Daneben dokumentieren die Kameras den ganz normalen Verkehrswahnsinn in Russland: Überfälle von Gaunern, die den Stau nutzen, um blitzschnell eine Fahrzeugscheibe einzuschlagen und mit einer Waffe in der Hand den Fahrer um sein Bares zu bringen; Verkehrsrowdys, die sich vor einer roten Ampel Platz schaffen, in­dem sie sich zwischen zwei Fahrzeugen durchquetschen und diese dabei an der Seite zerschrammen; und Unfälle jeglicher Art. Als Ende Dezember letzten Jahres auf dem Moskauer Flughafen Wnukowo ein Passagierjet über die Landebahn hinausschoss und auf der angrenzenden Autobahn zerbrach, dokumentierten Autokameras das mit Live-Bildern. Zu sehen war unter anderem, wie ein abgebrochenes Flugzeugrad an ein vorbeifahrendes Auto prallte und dieses fast gegen die Leitplanke drückte. Den Insassen war nichts passiert, aber im Flieger starben zehn Menschen.

„Hier auf den Straßen des Ostens herrscht manchmal Wilder Westen“, sagt Sergej, „hier passieren Dinge, die eigentlich nicht passieren können und an denen nur der Wodka schuld ist.“ Er selbst hat schon oft Unfälle gesehen, die durch rücksichtslose Raserei passiert sind und die nur durch übermäßigen Alkoholkonsum zu erklären sind. Im Internet gibt es dazu die aberwitzigsten Videos, die einen Actionfilm aus Hollywood alt aussehen lassen. So scheint es Mode zu sein, rechts auf dem Grünstreifen an Staus vorbeizurasen. Pech nur, wenn plötzlich eine Leitplanke auftaucht und das Auto darauf wie aufgebockt zum Stehen kommt.

Und wie ist es zu erklären, dass ein Bagger Schlangenlinien fahrend die rechts und links parken­den Au­tos „ab­räumt“? War ein Kind oder war Alkohol am Steuer? Und wo kommt das Auto her, das funkensprühend auf dem Dach rutschend von links „überholt“?

Dass man nach einem Crash auf der Kreuzung aus dem Auto aussteigt und seelenruhig den Unfallort verlässt, ist wohl nur damit zu erklären, dass man keine Lust hat, den Schrotthaufen namens Auto selbst zu entsorgen. Sergej staunt selbst immer wieder, was für kuriose Fahrzeuge sich auf russischen Straßen bewegen. Neben Nobelkarossen wie seinem SUV fahren noch viele „Rostquietsche“ aus Sowjetzeiten durch die Straßen. „Da fallen während der Fahrt einfach mal Reifen oder spitze Teile von den alten Karossen ab, die einen entweder direkt treffen und bestenfalls einen Lackkratzer hinterlassen oder auf der Straße liegenbleiben und einen Platten verursachen“, sagt er.

Jetzt in der Winterzeit sorgt Sergej dafür, dass seine am Armaturenbrett angebrachte „Dashcam“ besonders scharfe Bilder macht. Denn auf den vereisten Straßen kommen häufig Autos ins Rutschen. Manchmal sogar umgestürzte LKWs, die auf der Seite liegend einem entgegenrutschen. Umgerechnet 200 Euro hat Sergej für seine Kamera bezahlt, die wie eine Blackbox im Flugzeug in einer Endlosschleife die Sicht des Fahrers aufzeichnet.

In Deutschland setzt man eher GPS ein. Oder haben Sie eine „Dashcam“? Rechtlich bewegt man sich damit in einer Grauzone. Denn die Überwachung des öffentlichen Raumes ist verboten. So darf die Kamera nicht in einem geparkten Auto laufen, um etwa Vanda­lis­mus zu dokumentieren. Umstritten ist derzeit noch, ob Videobeweise bei Unfällen vor Gericht anerkannt werden dürfen. Da digitale Filmaufnahmen manipulierbar sind, ist ein Grundsatz­urteil in diesem Fall noch nicht gefällt worden. MRK/tws


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