25.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
02.03.13 / Bittere Armut bestimmte ihr Leben / 1891 Geborene erzählt von gewalttätigen Vätern und Männern – Interessantes Porträt aus der sozialen Unterschicht

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 09-13 vom 02. März 2013

Bittere Armut bestimmte ihr Leben
1891 Geborene erzählt von gewalttätigen Vätern und Männern – Interessantes Porträt aus der sozialen Unterschicht

„Winterkorn“ ist der bildhafte Titel der Geschichte von Jule Andersen aus Kiel, die 1891 in Kiel als fünftes von neun Kindern eines Gelegenheitsarbeiters und einer Bauerntochter geboren wurde. Wie der Winterroggen in eisiger Erde hat diese Frau aus der untersten sozialen Schicht in einer schwierigen Zeit alle Kräfte mobilisiert und durchgehalten. Herausgeber des beeindruckenden Lebenszeugnisses ist der 1936 im schlesischen Bunzlau geborene Autor und frühere Lehrer Theodor Buhl, der Jule Andersen kennenlernte, als sie 72 Jahre alt war. Bis zu ihrem Tod im Jahr 1975 machte er Tonbandmitschnitte von ihren gemeinsamen Gesprächen und den Interviews, die er mit ihr führte. Den umfangreichen Erzählstoff fasste er zu einer chronologischen Abfolge zusammen und übernahm dabei weitgehend unverändert Andersens lebhafte Sprache mit dem typisch bärbeißigen Witz, ein „Missingisch“ aus Hochdeutsch mit plattdeutschen Einsprengseln.

Bis zum Zweiten Weltkrieg war das Plattdeutsche in Norddeutschland im privaten Bereich noch weithin gebräuchlich. Auch das ist längst Vergangenheit. In der ungefilterten, von Stimmungen aufgeladenen Erzählung stößt man auf plattdeutsche Wörter, deren Bedeutung man nur erahnt.

Winzige Kellerwohnungen, das waren die wechselnden Behausungen der großen Familie um 1900. Mit fünf Jahren wurde Jule als Haushaltshilfe „vermietet“ – ein Esser weniger. Sie fand aber nicht alles nur trübselig damals in Kiel. In der Straße Sophienblatt gab es einen Hof und dahinter einen Garten. Morgens immer kam die Hauswirtin Frau Missfeldt zu ihrer Mutter und sprach sie freundlich an: „Nette Leute, die es heute nicht mehr gibt. Es waren viele Gören rundherum, da hatte jeder zehn, zwölf Gören, das gehörte sich. Aber es war so gemütlich mit den Kindern und den Müttern – meine Jugendjahre in der Zeit, das war was Schönes.“ Später kam sie als ungelernte Arbeitskraft auf einen Gutshof in Stellung, danach, wo immer sich eine Gelegenheit bot. Sie heiratete, bekam eine Tochter und wurde Großmutter dreier Enkel. Sie hat die Verhältnisse, mit denen sie konfrontiert war, nie genauer hinterfragt, mochte es ihr gut oder schlecht gehen. Doch Jule Andersen urteilte anhand der Taten, ob ein Mensch ein gutes oder ein schlechtes Wesen hat. Abscheu und Verachtung gegenüber gewalttätigen Männern und denen, die Schulden machten und ihre Frauen betrogen, brannten sich tief in ihr Wesen ein. Davon waren ihr eigener Mann, von dem sie sich scheiden ließ und den sie wieder heiratete, weil sie auf die Witwenrente spekulierte, und ihr Vater nicht ausgenommen. Ihn nannte sie nicht Vater, für sie war er nur Heinrich: „Heinrich hatte gar nichts für uns übrig. Sich mal mit uns Kindern beschäftigen irgendwie – nichts.“ Beim Essen mussten die Kinder mangels Sitzgelegenheiten stehen: „Und mit dem Stiefelknecht gab’s denn was, wenn wir nicht parierten. Heinrich konnte fast alles – aber er hatte dies grässliche Maul. Deswegen blieb er nirgendwo länger, schmiss alle acht Tage die Arbeit hin, erzürnte sich mit jedem. Wenn der eine Hü segg und der andere Hott, da haute er gleich ab, da war er fertig.“

An Kultur und Bildung war sie nicht interessiert, an der bundesdeutschen Politik nur, um sich daran zu reiben; dafür umso mehr an Fragen aus dem Bereich der Metaphysik. Sie habe in ihrem Leben kein einziges Buch gelesen, ihr Lesestoff beschränkte sich auf Zeitschriften und Illustrierte, berichtet der Herausgeber. Die Weichen dafür wurden in der Kindheit gestellt. Ihrem Vater, der immer bis spät in die Nacht las, hat sie als Kind den Bildungshunger als Faulheit angekreidet. Unterdessen saß ihre Mutter, die sich nie Ruhe gönnte, an der Nähmaschine „und nähte all die Plünnen – schon morgens Klock vier beim Knütten“. Andersens Weltbild, das im Alter von Vorurteilen und Abneigungen geprägt war, die im Schwarzweiß-Denken des Nationalsozialismus wurzelten, war unveränderlich, daran war nichts mehr zu rütteln. Buhl hat die Urversion von „Winterkorn“ seinerzeit an Heinrich Böll geschickt, der dafür anerkennende Worte fand. Dem Lob muss man sich uneingeschränkt anschließen. Dagmar Jestrzemski

Theodor Buhl: „Winterkorn. Die Lebenserinnerungen der Jule Andersen“, Rowohlt Verlag, Reinbek 2012, geb., 204 Seiten, 17,95 Euro


Artikel per E-Mail versenden
  Artikel ausdrucken Probeabobestellen Registrieren