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23.03.13 / Verdrängter Verlust / Ärzte versuchen, Todesfall in der Familie zu verarbeiten

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 12-13 vom 23. März 2013

Verdrängter Verlust
Ärzte versuchen, Todesfall in der Familie zu verarbeiten

Wenn eine Schriftstellerin und Psychoanalytikerin eingeladen wird, einige Wochen lang die Arbeit einer Krankenhausabteilung zu begleiten, um ein Buch darüber zu schreiben, dann ist als Ergebnis am ehesten ein Psychodrama mit einem speziellen Bezug zum Krankenhausalltag zu erwarten. Und so kam es auch. Die Rede ist von dem neuen Roman der bekannten Amsterdamer Autorin Anna Enquist mit dem Titel „Die Betäubung“. Anfang 2010 von einem befreundeten Klinikarzt gefragt, ob sie bei dem Projekt „Schriftsteller auf der Abteilung“ mitmachen wolle, nahm Enquist die Herausforderung ohne zu zögern an. Die 1945 geborene Autorin entschied sich für die Anästhesiologie, da ihr als Therapeutin der sinnreiche Zusammenhang zwischen der Betäubung von körperlichen und seelischen Schmerzen eine geeignete Vorlage bot. Ihre Beobachtungen und Erfahrungen brachte sie in Form von extrem realistischen Szenen und Fallbeispielen in ihren Roman ein, der denn auch etwas wie eine Krankenhaus-Reportage wirkt, wobei die Klinik anfangs nur den Nebenschauplatz einer sich langsam zuspitzenden Tragödie darstellt. Entsprechend dem Aufbau einer Sonate sind die inhaltlichen Abschnitte mit „Exposition“, „Durchführung“ und „Reprise“ überschrieben, worauf noch der Anhang, die „Coda“, folgt. In der Handlung kommt der Musik ebenfalls eine besondere Bedeutung zu.

Der kinderlose 50-jährige Drik de Jong ist seit einigen Monaten verwitwet. Seine Therapeuten-Praxis hat er nach dem Tod seiner Frau noch nicht wieder geöffnet. In dieser schweren Zeit fand er einen Zufluchtsort im Heim seines Schwagers Peter und seiner jüngeren Schwester Suzan, die als Anästhesistin tätig ist. Roos, deren Tochter, lebt nicht mehr im Haus der Eltern. Sie leidet ebenfalls sehr unter dem Tod ihrer Tante Hanna, zu der sie ein innigeres Verhältnis als zu ihrer Mutter hatte, und auch mit Drik versteht sich Roos ausgezeichnet. Nun möchte Drik nach und nach wieder in das Berufsleben zurückkehren. Von seinem Schwager Peter, ebenfalls Therapeut, hat er sich einen Klienten zuweisen lassen, den Psychologie-Studenten Allard Schuurmann. Er soll seine obligatorische Lehrtherapie bei Drik absolvieren. Doch der verstockt wirkende junge Mann gibt ihm von Anfang an Rätsel auf.

In Suzans Umfeld bewegt sich wenig später auch Schuurmann, der seine Ausbildung zum Psychiater abgebrochen hat und lieber Anästhesist werden will. Umso mehr ist Drik seinetwegen besorgt, redet aber mit seiner Schwester nicht über ihn, auch dann nicht, als er von einem Liebesverhältnis zwischen Suzan und Schuurmann erfährt. Und nur dem Leser ist bekannt, dass Roos und Schuurmann schon lange ein Paar sind. Der übergroße Kommunikationsstau innerhalb dieser Familie, der tragische Folgen nach sich ziehen wird, überfordert den Leser dann auch.

Eine weitere Schwäche des Romans ist die allzu ausführliche Schilderung des klinischen Alltags. Spannend wird es erst am Ende. Es kommt also darauf an, ob der Leser bereit ist, sich dennoch auf diese einfühlsam erzählte Geschichte einzulassen, in der man einiges darüber erfahren kann, wie Menschen mit erlittenen Niederlagen und Verlusten fertig werden. Dagmar Jestrzemski

Anna Enquist: „Die Betäubung“, Luchterhand Verlag, München 2012, geb., 320 Seiten, 19,99 Euro


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