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20.04.13 / »Ich wusste, jetzt muss ich darüber schreiben!« / »Workuta« im Nachlass von Horst Bienek entdeckt

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 16-13 vom 20. April 2013

»Ich wusste, jetzt muss ich darüber schreiben!«
»Workuta« im Nachlass von Horst Bienek entdeckt

Und wieder können wir von einem Literaturfund berichten, der hilft, Vorgänge in den Kriegs- und Nach­kriegsjahren zu durchleuchten – unbe­stechlich, unbeeinflusst, noch unter dem Eindruck des Geschehens geschrieben, wie es nur Menschen können, die diese selber erlebt haben. Herr Dr. Jörg Bilke, Coburg, übersandte uns einen Bericht über die Entdeckung eines Manuskripts des in Oberschlesien geborenen Schriftstellers Horst Bienek, der sich vor allem als Chronist seiner Heimat sah. Die furchtbaren Jahre, in der er als politischer Gefangener im sowjetischen Straflager geschunden wurde, hatte er kaum verarbeiten können oder wollen. Umso wichtiger ist nun die Auffindung eines Bienek-Manuskriptes in der Wilhelm-Leibnitz-Bibliothek in Hannover, das die Lagerzeit in Workuta zum Inhalt hat und jetzt als Buchausgabe unter dem Titel „Workuta“ erschienen ist. Herr Dr. Jörg Bilke, den wir Ostpreußen als hervorragenden Dozenten bei LO-Seminaren und anderen kulturpolitischen Veranstaltungen erleben konnten und der unseren Leserinnen und Lesern auch als Autor der PAZ bekannt ist, erweist sich in dem uns übersandten Bericht als engagierter Biograf des leider viel zu früh verstorbenen Schriftstellers. So bekommen wir den Bericht über diesen Literatur-Fund, der über unseren engeren Leserkreis hinaus viele ehemalige deutsche Strafgefangene und auch ihre Angehörigen interessieren wird, sozusagen aus erster Hand. Hier ist der Beitrag des Germanisten und Historikers, der seinen Beitrag mit Jörg Bernhard Bilke autorisiert:

Als Horst Bienek am 7. Dezember 1990 in München starb, stand er auf den Gipfel seiner Laufbahn als Schriftsteller. Nach zwei Gedichtbänden und dem Roman „Die Zelle“ (1968) hatte er in den Jahren 1975 bis 1982 einen Zyklus von vier Bänden über seine oberschlesische Heimatstadt Gleiwitz abgeschlossen, dem mit „Königswald oder Die letzte Geschichte“ (1984) noch ein fünfter folgen sollte. Davor und daneben waren etliche Essays entstanden und „Werkstattgespräche mit Schriftstellern“ (1962) sowie gegen Ende seines Lebens die „Kindheitserinnerungen aus Oberschlesien“. Diese Leistung ist umso höher zu bewerten, als der Autor erst 1955 aus dem Straflager Workuta am Eismeer entlassen worden war, wo er die Jahre 1952 bis 1955 als politischer Gefangener hatte verbringen müssen, ständig in der Angst zu verhungern oder zu erfrieren. Diese schrecklichen Jahre freilich blieben bis zuletzt unerzählt. Erst jetzt wurde im „Horst-Bienek-Archiv“ der Gottfried-Wilhelm-Leibnitz-Bibliothek in Hannover ein schmales Manuskript von kaum 50 Seiten gefunden, das in der Buchfassung den Titel „Workuta“ trägt. Dieser Name stand für das weit verzweigte Lagersystem in der Sowjetunion, den „Archipel Gulag“ (Alexander Solschenizyn), in dem seit 1929 bis zu Josef Stalins Tod 1953 und darüber hinaus Hunderttausende von „Klassenfeinden“ ausgebeutet und zu Tode geschunden wurden, falls sie nicht das „Glück“ hatten, vorher in Mos­kau erschossen zu werden wie der Rostocker Student Arno Esch (1928–1951). Das Lager Workuta selbst, im nördlichen Ural jenseits des Polarkreises gelegen, war zwischen 1938 und 1960 in Betrieb. Dort arbeiteten 70000 politische Häftlinge und nach 1945 deutsche Kriegsgefangene unter Tage, um die gewaltigen Vorräte an Steinkohle abzubauen. Als 1941 von Häftlingen die Eisenbahnlinie zum Transport der geförderten Kohle gebaut wurde, hieß es, unter jeder Schwelle lägen zwei Tote. Horst Bienek, der seine Lagererinnerungen tief in seinem Innern vergraben hatte, wurde erst wieder auf dieses verschüttete Kapitel seines Lebens gestoßen, als er auf der Leipziger Buchmesse 1990 aus seinem Roman „Die Zelle“ las und von Häftlingen, die das gleiche Schicksal erlitten hatten, unter den Zuhörern mit Fragen bestürmt wurde, so zum Streik im Sommer 1953, der in Schacht 29 ausgebrochen war und grausam niedergeschlagen wurde. „Ich wusste, jetzt muss ich darüber schreiben!“ Vor der Verhaftung lebte der junge Autor in Potsdam, hatte einige Gedichte veröffentlicht und fuhr jeden Morgen mit der S-Bahn durch den Westsektor nach Ostberlin, wo er als Schüler Bertolt Brechts dem Meister bei den Proben zusah. Am 8. November 1951 wurde er verhaftet, weil er einem Westberliner Bekannten ein Potsdamer Telefonbuch, das es bei der Post zu kaufen gab, mitgebracht hatte. Am 12. März 1952 erfolgte dann die Verurteilung zu 20 Jahren Lagerhaft durch drei gelangweilte Sowjet­offiziere. Über Berlin-Lichtenberg kam er nach Karlshorst, dem Hauptquartier der Besatzungsmacht, wo er und Hunderte von Mitgefangenen in die „Stolypinschen Waggons“ verladen wurden, bis sie nach tagelanger Fahrt bei eisiger Kälte im Moskauer Durchgangsgefängnis Butyrka eintrafen. Vier Wochen waren sie dann von Moskau aus unterwegs, überall wurden Gefangene zugeladen, Aufständische aus den nach 1945 besetzten Staaten, zum Beispiel polnische Partisanen der „Heimatarmee“. Die noch bis 1951 gegen die russische Besatzungsmacht gekämpft hatten, aber auch national gesinnte Ukrainer, Esten, Letten, Litauer, eine „Internationale der Stalin-Opfer“ wie Horst Bienek schreibt. Die hygienischen Zustände, Hunger, Erschöpfung, einhergehend mit Krankheiten, die kaum behandelt wurden, forderten zahlreiche Todesopfer. Erst Bundeskanzler Konrad Adenauer erreichte es während seiner Moskau-Reise im Spätsommer 1955, dass die letzten 1000 Kriegs- und Zivilgefangenen, darunter auch Horst Bienek, freikamen. (Horst Bienek: „Workuta“, mit einem Nachwort von Michael Krüger, Wallstein-Verlag, Göttingen, 89 Seiten, 14,90 Euro.)       R.G.


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