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27.04.13 / Rückkehr des Riesen-Rindviehs / Die Wisente standen kurz vor der Ausrottung – Jetzt setzte man im Rothaargebirge eine Zuchtherde in die Freiheit

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 17-13 vom 27. April 2013

Rückkehr des Riesen-Rindviehs
Die Wisente standen kurz vor der Ausrottung – Jetzt setzte man im Rothaargebirge eine Zuchtherde in die Freiheit

Masurens traditionsreiches Charaktertier lebt jetzt auch westlich der Oder erstmals wieder in freier Wildbahn. In einem europaweit einmaligen Versuchsprojekt wurde eine Wisentherde ausgewildert. Im Rothaargebirge sollen sich die Ur-Rinder an die Freiheit gewöhnen, ohne den Menschen gefährlich zu werden.

Der 11. April dieses Jahres sei ein historisches Datum für den Landkreis Siegerland-Wittgenstein, das Land Nordrhein-Westfalen, Deutschland und Europa. Ein Datum, das in die Geschichte eingehen werde. So jedenfalls sieht es Uwe Riecken vom Bundesamt für Naturschutz, der das bahnbrechende Wisent-Projekt im Herzen des Rothaargebirges seit 2004 tatkräftig unterstützt und begleitet. Denn durch die Auswilderung der achtköpfigen Wisent-Herde – ein Bulle, fünf trächtige Kühe und zwei Kälber – im Wittgensteiner Wald bei Bad Berleburg können sich Wisente erstmals auch westlich der Oder wieder frei in Europa bewegen.

Darüber freut sich ganz besonders der Initiator des Projektes Richard Prinz zu Sayn-Wittgenstein-Berleburg, in dessen Forst die Tiere seit 2010 – nach über sechsjähriger Planungsphase – in einem rund 88 Hektar großen Eingewöhnungsareal auf den großen Tag vorbereitet wurden. Mit der Durchtrennung des Zaunes stehen den faszinierenden Riesen nun – theoretisch – bis zu 12500 Hektar fürstlichen Waldes zur Verfügung und mehr. Ist Siegerland-Wittgenstein doch zu zwei Dritteln mit Laub- und Nadelwald bedeckt und damit der waldreichste Kreis Deutschlands.

Doch bis die Tiere wirklich frei sind, werden noch einige Jahre vergehen. Vorerst bleiben sie unter Beobachtung, haben einen eigenen Wildhüter, werden wei­terhin veterinärmedizinisch versorgt und gefüttert. Zudem sind die Leitkuh und der erwachsene Bulle mit Telemetrie-Halsbändern ausgestattet, die ihren Aufenthaltsort verraten.

Ursprünglich war die größte europäische Rindtierart bis in den asiatischen Teil Russlands verbreitet und bevölkerte als Könige der masurischen Heiden auch die ostpreußische Wildnis. In Ge­schichtsbüchern ist zu lesen, dass der schon 1000 v. Chr. hier sesshaft gewordene Volkstamm der Galinder die Tiere jagte.

Gejagt wurde weiter, immer, solange man denken kann. Doch ausgerottet hatte Masurens größtes Charaktertier dabei keiner. Die einst in Ostpreußen herrschenden Fürsten sorgten selbst nach tiefsten Einbrüchen dafür, dass die Population ihrer begehrten Jagdbeute sich nicht völlig auflöste. Doch was alle Jäger nicht ge­schafft hatten, er­ledigten schließlich Krankheit und Krieg, Infektionen und Wilderer.

Schon Anfang des 20. Jahrhunderts fand man Europas größte Landsäugetiere nur noch im polnischen Bialowieza-Urwald und im Kaukasus frei lebend vor. Bis auch sie 1919 beziehungsweise 1927 hier ausgerottet waren. Ganze 54 Tiere überlebten in Zoos und Wildgehegen. Sie bildeten den Grundstock des seit 1932 im Zoologischen Garten von Warschau geführten internationalen Zuchtbuches, das bis heute das wichtigste Instrument bei der Planung der Arterhaltung ist.

Glücklicherweise hatten Wissenschaftler und Naturschützer die bedrohten Riesen nie fallen gelassen. Auch dann nicht, als ihnen für ihre Zuchtbemühungen nach dem Zusammenbruch der Population gerade noch zwölf Tiere zur Verfügung standen: Elf Kühe und ein Bulle. Trotz dieser minimalen Zuchtbasis hat sich der Bestand in den letzten 100 Jahren bemerkenswert erholt. Insgesamt ist die „Wisentsche Weltbevölkerung“ wieder auf rund 4500 Tiere angewachsen. Knapp zwei Drittel davon leben heute in 33 freien Herden in Polen, Russland, Litauen, der Slowakei, Weißrussland, Rumänien, der Ukraine und jetzt erstmals auch in Deutschland. Alleine in der Republik Polen findet man wieder über 600 Wisente in Freiheit. Diese verbindet sich mit drei Gebietsnamen: dem Borker Wald bei Lötzen [Gizycko], der Johannisburger Heide bei Allenstein [Olsztyn] und dem Unesco-Weltnaturerbe Bialowieza, dessen Fläche sich weiter südöstlich grenzüberschreitend bis nach Weißrussland hinein erstreckt. Im polnischen Bialowieza-Urwald lebt mit zirka 450 Wisenten die größte dieser Herden.

Damit möchte man meinen, sei der Wisent in Freiheit gründlich erforscht. Doch die Bedingungen seien überall anders, so Landrat Paul Breuer, stellvertretender Vorsitzender des Trägervereins Wi­sent-Welt-Wittgenstein. Das Rothaargebirge sei kein Urwald wie in Polen, sondern eine besiedelte Kulturlandschaft mit bewirtschaftetem Wald. Da galt es besonders in der Bevölkerung Ängste abzubauen und Vertrauen zu gewinnen. Ein Prozess, der sich zu einem wissenschaftlichen Mammutprojekt entwickelte angesichts der vielen beteiligten Behörden, Institutionen, Verbände und Personen. 150 Wissenschaftler und vier Universitäten haben sich an den Machbarkeitsstudien beteiligt: die Tierärztliche Hochschule in Hannover sowie die Universitäten Siegen, Frankfurt am Main und Göttingen. Nichts wurde dem Zufall überlassen. Bleibt nur zu hoffen, dass sich die Wisente auch erkenntnisgerecht verhalten, damit sich die 1,4 Millionen Euro, die das Wisent-Projekt im Rothaargebirge bis heute verschlungen hat, sowie die Folgekosten auch lohnen.

Zweifel daran hat derzeit übrigens keiner. Und daher stehe man in Kraansvlak in den Niederlanden, in den französischen Seealpen oder auf der dänischen Insel Bornholm auch schon in den Startlöchern, um dort ähnliche Projekte nach Wittgensteiner Vorbild zu realisieren, so Riecken. Denn der Artenschutz ist nur die eine Seite der Medaille.

Durch die Wisent-Auswilderung ist die Region ohne Zweifel nicht nur in Sachen Naturschutz, sondern auch im Hinblick auf ihre touristische Attraktivität in die Champions-League aufgestiegen. Und diese Attraktivität ist auch ohne „wilde“ Wisente durch den 2001 eröffneten Rothaarsteig bereits enorm hoch. Garantiert der 154 Kilometer lange Weg von Brilon im Sauerland über das Wittgensteiner Bergland und das Siegerland bis ins hessische Dillenburg am Fuße des Westerwaldes als Deutschlands erster Premiumweitwanderweg doch schon bisher erstklassige Naturerlebnisse, gut sichtbare Wander-Markierungen und eine auf die Bedürfnisse der Touristen ausgerichtete Infrastruktur.

Die Frage aber, wo man die scheuen Wisente zu Gesicht bekommt, werden selbst die erfahrenen Wildhüter am Rothaarsteig nicht immer beantworten können. Deshalb gibt es eine zweite Herde auf fürstlichem Grund: die Wisent-Wildnis am Rothaarsteig bei Wingeshausen, einem Ortsteil von Bad Berleburg, wo in einem 20 Hektar großen, naturbelassenen Areal der Bulle Horno, die Kühe Fasel, Faye und Gutelaune sowie die Kälber Quattro und Quelle leben. Zwischen den beiden Außenzäunen kann der Besucher auf einem drei Kilometer langen unbefestigten Wanderpfad (Trittsicherheit und festes Schuhwerk werden vorausgesetzt) deren Lebensraum umrunden und sicher sein, die Tiere auch mindestens einmal zu sichten. Seit der Eröffnung am 20. September 2012 haben 20000 Besucher davon Gebrauch gemacht.

Wer die Tiere aber in Aktion sehen und fotografieren möchte, braucht Geduld. In der Regel dösen sie stundenlang träge vor sich hin oder käuen wieder und ihre einzigen Handlungen bestehen darin, sich von der Bauch- in die Seitenlage zu bequemen oder umgekehrt. Helga Schnehagen


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