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04.05.13 / Omas Maibaum / Brockmanns Idee zog alle Blicke auf sich

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 18-13 vom 04. Mai 2013

Omas Maibaum
Brockmanns Idee zog alle Blicke auf sich

Morgen ist der 1. Mai“, sagte Daniela Brockmann und atmete tief, „die Luft ist seidenweich und die Natur im Farbenrausch.“ „Nun krieg dich wieder ein. Du schwärmst ja wie eine Siebzehnjährige.“ Ihr Mann lachte. „Ich sollte dir wirklich einen Maibaum aufs Dach setzen.“ Daniela kicherte. In der nächsten Minute dachte sie schon nicht mehr an seine Worte.

Am 1. Mai war Daniela früh auf den Beinen. Sie stand in der Küche und sah durch das Fenster in den Frühlingshimmel. Zwei Nachbarinnen gingen gerade vorüber, blieben aber plötzlich stehen, hoben neugierig den Blick und schmunzelten. Daniela wollte sich gerade abwenden, um Kaffee aufzubrühen, als sie Herrn Tillmann von gegenüber bemerkte. Der stand in seinem Vorgarten, starrte auf das Dach der Brockmanns und griemelte vor sich hin. „Was die nur alle haben?“, fragte sie sich, öffnete das Küchenfenster und rief: „Morgen, Herr Tillmann. Gibt es etwas Besonderes zu sehen? Nisten etwa Störche auf unserem Dach?“ Der Nachbar winkte ihr zu. „Kommen Sie und schauen sie selbst!“ Daniela lief zur Tür, schloss mit vor Neugierde zitternden Fingern auf und rannte nach draußen. Auf der Straße bekam sie kugelrunde Augen und vergaß beinah weiter zu atmen. „Heiliger Schnickschnack“, entfuhr es ihr, „was sagt man denn dazu?“

Auf dem Dach der Brockmanns stand ein zartgrünes Birkenbäumchen. In seinen Zweigen flatterten mohnblumenrote Stoffstreifen wie Feuerzungen durch die klare Luft und winkten, als wollten sie sagen: „Leute, seht mal her, hier oben lacht die Liebe, hier oben!“ „Mensch Willi, du bist vollkommen verrückt!“ Daniela warf sich in die Arme ihres Mannes, der – noch im Morgenrock − mit strahlendem Gesicht aus der Haustür getreten war. „Was die Jungen fertig kriegen, können wir Alten allemal“, sagte er. „Ist das nicht eine Super-Überraschung, Omi?“ Opa bekam ein paar herzhafte Küsse, und niemand wusste, ob die Feuchtigkeit auf seiner linken Wange nur von den nassen Schmatzern, oder auch von ein paar Freudentränchen seiner Liebsten stammte.

Den ganzen Monat lang stand der Maibaum in Sonnenschein und Regen auf dem Dach und leuchtete. Auch Oma Brockmann leuchtete. Bei einem Einkauf in der Stadt traf sie ihre Freundin. Ulla erzählte ihr von den prächtigen Maibäumen, die ihre beiden Töchter von den jeweiligen Freunden bekommen hatten. „Der eine Baum hat vornehme lila Streifen und der andere ist knallbunt“, sagte sie, „diese Bäume sprechen von Liebe.“ Daniela nickte vor sich hin. „Ich selbst habe ja auch einen Maibaum bekommen, und er ist der schönste der ganzen Stadt.“ „Alte Frauen bekommen keine Maibäume, so wie sie auch keine Kinder mehr kriegen.“ Ulla fühlte sich veralbert. Sie verabschiedete sich kühl.

Daniela lächelte. Wie sollte die Freundin auch wissen, dass es immer wieder Wunder gibt, und besonders im Mai, dem Monat der Liebe.

Und dann kam ihre Enkelin, die achtjährige Anna vorbei, und die sah staunend zum Dach hinauf und meinte ein wenig altklug: „Maibäume bekommen doch immer nur die jungen Mädchen, und in eurem Hause wohnt nur ihr. Und ihr seid schon alt! Für wen ist denn dann dieses schöne Bäumchen gedacht?“ Ihre Großmutter lächelte fein. „Tja, mein Schatz, die Frau hier im Hause ist eigentlich noch gar nicht so alt, auch wenn das äußerlich nicht gleich so auffällt.“ „Meinst du dich, Oma?“ In Annas grünbraunen Augen leuchtete erstes Verstehen auf. Die Großmutter nickte. „Und der junge Mann, der den Maibaum gesetzt hat, ist Opa.“ Gabriele Lins


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