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08.06.13 / Solotanz nach oben / Seit 40 Jahren führt John Neumeier in Hamburg die Ballett-Fäden

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 23-13 vom 08. Juni 2013

Solotanz nach oben
Seit 40 Jahren führt John Neumeier in Hamburg die Ballett-Fäden

Als der US-Choreograf John Neumeier 1973 nach Hamburg ging, formte er aus einem Durchschnitts-Ballett ein Ensemble von Weltrang. Bei den 39. Hamburger Ballett-Tagen, die in der Staats­oper vom 9. bis 30 Juni stattfinden, sind neben auswärtigen Produktionen auch viele Neumeier-Klassiker zu sehen.

Mit dutzenden Blumensträußen und stehendem Applaus kann das Ensemble des Balletts „Die Kameliendame“ wieder bei den Hamburger Ballett-Tagen rechnen. Nichts Seltenes für diese außergewöhnliche Oldtimer-Inszenierung von 1978. Das Außergewöhnliche kennzeichnet auch das Werk des verantwortlichen Ballettdirektors: John Neumeier (71) feiert sein 40. Jubiläum an der Spitze des Hamburg Balletts. Sein Streben nach Perfektion schwingt in jedem Trippelschritt mit, in jedem Pas de Deux, wenn die Primaballerina scheinbar schwerelos über den Boden gleitet.

Der US-Bürger startete 1963 in Stuttgart mit 21 Jahren als Gruppentänzer. Das Ensemble in Hamburg brachte er zu Weltruhm. Ungewöhnlich lange fand der Choreograf, der bis zu seinem 65. Geburtstag noch selbst mit federnden Schritten die Bühne durchmaß, stets neue Inspiration in der Elbstadt. Zu seinem Jubiläum beweist er zugleich die Zeitlosigkeit seines Schaffens, ob modern oder klassisch inszeniert. Ob die frisch aus seinen ersten Hamburger Tagen wieder ins Repertoire aufgenommenen Verliebten „Romeo und Julia“ oder Neumeiers 2011 erstmals inszenierte moderne Liebesgeschichte „Liliom“ – was der Meister gestaltet, bewegt bei „anhaltendem Publikumsinteresse“, so der NDR über die aktuellen Aufführungen der Vorstadtlegende „Liliom“.

Das Interesse äußert sich in vollen Sälen. Hamburg feiert Neumeier dieses Jahr mit den von zwei auf drei Wochen ausgedehnten Hamburger Ballett-Tagen. Am 22. Juni gibt es eine Gala, „in der Tanz, Stimme und Klavier aufeinandertreffen“, verspricht der Träger des großen Verdienstkreuzes des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland. Er tritt bei allen Ehren bescheiden auf, umso höher ist sein Anspruch an die Darbietungen seines Ensembles.

„Mit meinem Beginn als Ballettdirektor in Hamburg 1973 wollte ich eine Compagnie aufbauen, die meinen künstlerischen Vorstellungen entsprach. Das ging nur gemeinsam mit den Tänzern“, sagt der Mann, der sich selbst gern als „Arbeiter“ bezeichnet, „der nicht nach rechts und links schaut“ über sein Erfolgsrezept.

Neumeier zieht sein Ding durch, von Anfang an. Diese Anfänge sind stark vom Glauben inspiriert. Ein Jesuit ebnete ihm an der Universität seines Geburts- und Studienorts Milwaukee den Weg: „Ich wurde katholisch erzogen und gehe sonntags in die Messe. Und Father Walshs Einfluss als Jesuit lehrte mich die intellektuelle Auseinandersetzung“, so der heute in Tokio wie St. Petersburg oder London als Gast-Choreograph gefragte Künstler. „Es wurde für mich selbstverständlich, diese Dinge dann auch körperlich und choreografisch auszudrücken.“ Walsh gab Tanzunterricht, öffnete die Tür zur Bühne.

Inzwischen fungiert Neumeier selbst als Türöffner und Förderer der Künstler. Vor zwei Jahren gründete er das Bundesjugendballett, das jungen Tänzern zu­sätzlich Raum am Ballettzentrum Hamburg gibt. Den letzten ge­meinsamen Auftritt der Spielzeit hat dessen erster Jahrgang am 1. August in Berlin mit „Simple Gifts“. Schon 1989 setzte Neumeier die Gründung des Ballettzentrums mit angegliedertem Internat und Compagnie um, als neues Quartier der 1978 gegründeten Ballettschule. Inzwischen besteht die Compagnie zu mehr als 80 Prozent aus den Absolventen der Ballettschule.

Der Künstler blickt ohne Anzeichen von Müdigkeit auf einen Weg zurück, der vielfältiger kaum sein könnte. Wenn „Die Kameliendame“ vor den üppig von Jürgen Rose in Seide und edlen Stickereien kostümierten Tänzerinnen im Schlaglicht wirbelt, Neumeier das Muskelspiel der männlichen Tänzer mit Augenzwinkern auf die Schippe nimmt, könnte man eine Stecknadel fallen hören. Ein Tänzer hebt die Peitsche, die anderen formen blitzschnell ein Pferd. Lachen und das „Wow“ aus dem Zuschauerraum durchbricht kurz die Illusion der fast dreistündigen Aufführung zu Klängen von Frédéric Chopin.

Nach den Anfängen in Amerika lernte Neumeier in Deutschland eine neue Bühnenwelt mit ihrer engen Verknüpfung von Schauspiel und Oper kennen. „Zweifellos förderte das deutsche Theatersystem mit seiner dramaturgischen Ausrichtung die spezielle Begabung des jungen Tänzers, der sich anschickte, ein Choreograf zu werden“, charakterisierte der Tanzkritiker Horst Koegler Neumeiers Aufstieg zum Star.

Neben der Staatsoper und der Ballettschule hat sich der Jubilar 2006 ein drittes Standbein geschaffen, eine international bekannte Tanz- und Ballettsammlung, gebündelt in der nach ihm benannten Stiftung. Neumeiers legendäre Sammelleidenschaft dient auch der Forschung. Eine Bibliothek führt Zeugnisse von Antike bis Ethnologie zusammen – eine Quelle ständiger Inspiration. Die bezieht er auch aus der deutschen Literatur. Im Jahr 2003 regte ihn Thomas Manns „Tod in Venedig“ an, 2006 Chrétien de Troyes und Wolfram von Eschenbachs „Parzival“ zu „Parzival – Episoden und Echo“.

Die zwei großen Konstanten Neumeierscher Kraft bleiben indes Tänzer und Choreograf Vaslaw Nijinsky und der Komponist Gustav Mahler. Der Spätromantiker Mahler wirkte 1891 bis 1897 als Erster Kapellmeister am Vorgängerbau der heutigen Hamburger Staatsoper. „Eine Brücke zu bauen in etwas Metaphysisches“, darin sieht der Ballettdirektor Mahlers großes Verdienst. Dessen „Rückert Lieder“ stehen für die gekonnte musikalische Begleitung der neusten Inszenierung Pate. Am 17. Mai feierte die Compagnie mit dem Neumeier-Ballett „Um Mitternacht“ in Essen Premiere.

Über diese Wurzeln bleibt der auch im Ausland zahlreich Ausgezeichnete mit dem Publikum verbunden: Sich an üppigen Kostümen sattzusehen wie in „Die Kameliendame“ oder eine moderne Choreografie ohne verkrampfte Bezüge in stimmiger Form erleben, das ist bei Neumeier garantiert. Seine besondere Leidenschaft gilt historischen Handlungs- und Märchenballetten, doch er beherrscht auch die Moderne – eine breite Klaviatur künstlerischer Ausdrucksformen ohne je ins Klischee abzugleiten.

Seine Umsetzungen literarischer Stoffe für das Ballett „Die Kameliendame“ von Dumas, „Endstation Sehnsucht“ von Tennessee Williams oder Tschechows „Die Möwe“ ist auch ohne Kenntnis der Originale ein nachvollziehbarer Genuss, eben zeitgemäßes Ballett. Sverre Gutschmidt


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