20.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
15.06.13 / »Erdogan raubt uns die Freiheit« / Türkischer Ministerpräsident versucht, sein Volk zu bevormunden – Aufmerksame Bürger spüren überall Grenzen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 24-13 vom 15. Juni 2013

»Erdogan raubt uns die Freiheit«
Türkischer Ministerpräsident versucht, sein Volk zu bevormunden – Aufmerksame Bürger spüren überall Grenzen

Als ich am 1. Juni mein Facebook-Account öffnete, konnte ich kaum glauben, was sich in dieser Nacht abgespielt hatte“, berichtet eine seit neun Jahren in der Türkei lebende Schleswig-Holsteinerin. „In Istanbul schien die Hölle los gewesen zu sein. Ein Bild jagte das nächste und diese waren grausam. Es erinnerte mich an die Bilder aus Ägypten.“ Noch am selben Abend sah sie auf dem „Platz der Gemeinde“ bei sich in Bodrum 7000 Demonstranten. Sie forderten den Rücktritt von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und sangen Hymnen und Märsche. „Die Stimmung war toll, man konnte den Zusammenhalt spüren; ich war das erste Mal stolz, eine türkische Staatsbürgerin zu sein, hatte ich doch vorher immer bekundet, nur die Staatsbürgerschaft beantragt zu haben, um zu arbeiten“, so die 36-Jährige, die sich darüber aufregt, dass das türkische Fernsehen die Demonstrationen weitgehend verschweigt.

„Erdogan ist ein berechnendes Tier“, schimpft eine Buchhalterin aus Izmir. „Er versucht, die weniger gebildeten Bürger auf seine Seite zu ziehen, verteilt in der Osttürkei Geld und Lebensmittel um die Stimmen der armen und ungebildeten Bürger zu sichern.“ Und auch der Organisations-Manager eines großen Hotels hat keine guten Worte für den türkischen Regierungschef übrig. „Nach und nach raubt Erdogan uns unsere Freiheit“, ärgert er sich. „Warum darf ich kein Bier trinken wann und wo ich es will? Wenn ich mich auf der Straße umgucke … Nirgendwo werden Regel eingehalten, niemand ist angeschnallt, geschweige denn Kinder sitzen im Kindersitz. Es gibt keine Regeln, keine Verbote … Und ich darf als erwachsener Mann nicht trinken? Der Idiot soll sich um die wichtigen Dinge in unserem Land kümmern.“

Eine Deutschlehrerin aus Istanbul, wohnend in Bodrum, berichtet: „Alles ist privatisiert. Schulen, Kindergärten, Krankenhäuser, Ärzte … Klar gibt es das alles auch staatlich, aber jeder, der das Geld irgendwie auftreiben kann, schickt seine Kinder auf eine bessere Privatschule … Und dann sagt Erdogan noch, das jede Familie drei Kinder haben sollte! Wovon denn bitteschön, wenn mein Monatsgehalt für die Schule draufgeht.“

Nun ist über eine Woche vorbei und die Proteste halten an. Erdogan ist nach einem Afrikaaufenthalt nach Istanbul zurückgekehrt, empfangen von seinen Anhängern, bärtigen Männern sowie Frauen mit Kopftuch. Da viele Türken einfach nicht genug Bildung besitzen, um die ganze Situation zu überblicken, zählt für sie vor allem ihre Religion und die bedient Erdogan zur Genüge. Aber er hat die Rechnung ohne die Masse der Türken gemacht. „Die Türken werden von klein auf mit Atatürk konfrontiert, selbst mein Sohn lernt im Kindergarten Lieder und Gedichte, die von Atatürk handeln“, beschreibt die

36-jährige Deutsche den zugleich in der Türkei tief verankerten Stolz auf die republikanische, säkulare Gründungsgeschichte. „Genau diese ,Atatürk-Kinder‘ halten jetzt diesen Protest aufrecht, wer weiß, wo er hinführt. Ich bin mir sicher, das wird noch ein langer Weg, ich hoffe, er führt in die richtige Richtung“, fährt sie fort. Gesa Dinç (Siehe auch Seite 4)


Artikel per E-Mail versenden
  Artikel ausdrucken Probeabobestellen Registrieren