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22.06.13 / Er glaubte, Stalins Nachfolge antreten zu können / Vor 60 Jahren wurde Lewrentij Berija, einst Organisator der Schreckensherrschaft, als »Volksfeind« und »Umsturzplaner« verhaftet

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 25-13 vom 22. Juni 2013

Er glaubte, Stalins Nachfolge antreten zu können
Vor 60 Jahren wurde Lewrentij Berija, einst Organisator der Schreckensherrschaft, als »Volksfeind« und »Umsturzplaner« verhaftet

Lewrentij Berija wird zu den Schlüsselpersonen des Terrors der Stalinschen Säuberungen gezählt. Nichtsdestotrotz finden sich in seinem erst vergangenes Jahr von dem Historiker Sergeij Breskun herausgegebenen Tagebuch viele Klagen, dass „Koba“ (Stalin) ihn zumeist nur in der zweiten Reihe ranghoher Ämtern postiert habe. Folglich war ihm bei der Trauerrede, die er beim Begräbnis seines georgischen Landsmannes Stalin hielt, eher Frohlocken als Trauer anzumerken. Nun schien ihm seine Stunde gekommen zu sein. Bereits an Stalins Todestag hatten ihn seine potenziellen Konkurrenten Nikita Chruschtschow, Georgi Malenkow, Wjatscheslaw Michailowitsch Molotow und Nikolai Bulganin zum Vizepremier und Chef der aus Innenministerium und Staatssicherheit vereinigten „Machtbehörde“ ernannt.

Entgegen dem Wunsch der Stalin-Clique nach einen „Stalinismus ohne Stalin“ inszenierte Berija jedoch umgehend den Bruch mit dem Stalinismus. Zwei Wochen nach Stalins Tod am 5. März 1953 entließ er die Innenminister aller Sowjetrepubliken. Diesem Anfang folgten weitere Maßnahmen, darunter die Amnestie vom 28. März, durch die 1,2 Millionen Lagerhäftlinge freikamen, 400000 Strafverfahren gestoppt und der Gulag, Stalins Lager-System, dem Justizministerium unterstellt wurden. Er rollte Stalins „fabrizierte und gefälschte“ Schauprozesse wieder auf, allen voran jene in Sachen der angeblichen Ärzte-Verschwörung von 1948, deren Triebfeder Stalins primitiver Antisemitismus gewesen war, und rehabilitierte ihre Opfer.

Das hätten die Alt-Stalinisten vielleicht noch hingenommen, aber Berija ging weiter: Er verbot Folter bei Verhören; Innenministerium und Sicherheitsorgane sollten nicht mehr Haftstrafen bis zu 25 Jahren ohne Prozess verhängen; Reise- und Passbestimmungen wurden gemildert; und die kommunistische Partei hatte sich auf Ideologie und Propaganda zu beschränken und sich aus der alltäglichen Politik herauszuhalten. Berija wollte die Zwangskollektivierung im Ostblock beenden; er knüpfte Geheimkontakte zu Stalins Todfeind, dem jugoslawischen Marschall Josip Broz Tito; und er war entschlossen, die ökonomisch ruinierte DDR aufzugeben, aus der alljährlich Hunderttausende flüchteten – mit verheerenden Folgen für das internationale Renommee der UdSSR. Den mitteldeutschen Volksaufstand vom 17. Juni 1953 empfand er als Beweis, dass Moskaus Besatzungsherrschaft nur eine riesige „Dummheit“ sei. Mit anderen Worten: Berija unternahm Dinge, die erst Michail Sergejewitsch Gorbatschow vollendete. Nicht zufällig wurde Berija lange vor Gorbatschows Perestrojka heimlich „perestrojschtschik“ genannt.

Berijas Salven auf die stalinistische Machtbasis provozierten massive Reaktionen von deren Seite. Am 26. Juni 1953 wurde Berija verhaftet – als „Volksfeind“, „Umsturzplaner“ und „englischer Spion“. Das waren unsinnige Anklagen, denen nie und nirgendwo Glauben geschenkt wurde. Aber bis heute hängt Berija an, was die Stalinisten unter der Hand verbreiteten und das Oberste Gericht Russlands ihm noch Ende Mai 2002 jede Rehabilitierung versagen ließ: Er sei die „Schlüsselfigur des Terrors“ und ein „sadistischer, syphilitischer Frauenjäger“ gewesen, habe nach 1939 die Deportationen aus der Ukraine und dem Baltikum organisiert, 1940 den Mord an Leo Trotzki organisiert und das Massaker von Katyn inszeniert, bei dem rund 25000 polnische Offiziere und Zivilisten ermordet wurden.

Natürlich war es unmöglich, als Amtsträger unter Stalin saubere Hände zu haben, aber Berija war Russlands „bester Manager des 20. Jahrhunderts“, wie Sergeij Breskun 2008 seine Berija-Biographie überschrieb. Georgien erlebte in den 1930er Jahren unter Berija als Parteichef eine Blütezeit: Aufschwung von Industrie, Erdölförderung und Kultur, Agro-Kollektivierung ohne Zwang – alles völlig konträr zu dem „golodomor“ (Hungertod), in den Stalin zur selben Zeit die Ukraine trieb. Als Berija Ende 1938 Chef der sowjetischen Staatssicherheit wurde, ging die Zahl der Todesurteile rapide zurück.

Nach Ausbruch des Krieges, vor dem Sicherheitschef Berija früh gewarnt hatte, korrigierte er Fehler, die Stalin durch Terror und Säuberungen begangen hatte. Er stoppte die Massenverhaftungen seines Amtsvorgängers Nikolai Jeschow und befreite rund 200000 Gefangene aus den Todeslagern. Er organisierte als stellvertretender Leiter des Staatlichen Verteidigungskomitees (GKO) die Verteidigung Moskaus, brachte die Panzer- und Flugzeugproduktion auf Touren und plante ab 1943 eigene Kernwaffen, was am 20. August 1949 im ersten Atombombentest in Semipalatinsk gipfelte. Selbst an Raumfahrt dachte er schon, und unter ihm machte Sergeij Koroljow, später „Vater“ der sowjetischen Raketentechnik, erste Schritte.

Berija hatte im Frühjahr 1953 alle Macht, die Stalinisten um Chruschtschow von der Bühne zu jagen, aber sein fataler Fehler war, dass er deren verbrecherische Energie unterschätzte. Im Juni 1953 zeigte er dem Dichter Konstantin Simonow, einem Lobhudler Stalins, Erschießungslisten aus den 1930er Jahren, alle von Stalin, Malenkow, Chruschtschow signiert. Das war Berijas Entlastungszeugnis, und jetzt wollte er den eigentlichen Verbrechern Halali blasen, wie aus seinen Tagebüchern hervorgeht. Der diplomierte Architekt Berija, mutmaßlicher Bauherr zweier Hochhäuser am Moskauer „Gagarin-Platz“, verachtete Stalin und das primitive „swolotsch“ (Pack) in seinem Umkreis, am meisten den bäuerischen Nikita Chruschtschow, den er nur „Mykita“ (Kümmerling) nannte. Was wäre vom intellektuellen Zyniker Berija noch zu erwarten – fragten angstvoll die Stalinisten.

Die Antwort waren Berijas Verhaftung, Verurteilung und Hinrichtung am 23. Dezember 1953 oder Monate früher samt „Berija-Bande“ hoher Staatsfunktionäre. Alle Prozessakten blieben unter strengstem Verschluss. Ob Berija auf dem Moskauer Donskoje-Friedhof liegt neben Nationaldichter Alexander Sergejewitsch Puschkin und dem Literatur-Nobelpreisträger des Jahres 1970 Alexander Issajewitsch Solschenizyn, oder aber seine Asche in die Moskwa gestreut wurde, weiß niemand. Auch aus der „Großen Sowjet-Enzyklopädie“ (BSE) ist seine Spur getilgt. 1952 war deren 5. Band erschienen, darin ein langer Artikel über Berija. 1954 wurden weltweit Bezieher der BSE aufgefordert, diesen durch einen erweiterten Artikel „Beloe More“ (Weißes Meer) zu ersetzen.  Wolf Oschlies


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