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22.06.13 / Emanzipation auf Albanisch / Wenn Frauen mitreden wollen, werden sie zu »Schwurjungfrauen«

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 25-13 vom 22. Juni 2013

Emanzipation auf Albanisch
Wenn Frauen mitreden wollen, werden sie zu »Schwurjungfrauen«

Vorsicht Chauvi-Wort: „Eine Frau ist ein Schlauch, in dem ein Gut transportiert wird. Sie ist Eigentum ihres Mannes, darf den Mund nur zum Essen oder zur Totenklage öffnen.“ So steht es im „Kanun“, dem albanischen Gewohnheitsrecht aus dem 15. Jahrhundert, das bei Nord-Albanern gegenüber Frauen noch heute gilt. Selbst Leserbriefe in dem UN-Blatt „Focus Kosovo“ waren deutlich: „Frauen verdienen Prügel, wenn sie nicht gehorchen“ oder: „Keine Frau würde je die Polizei zu Hilfe rufen.“

Jahrhunderte der Isolation in ihren Bergregionen bedingten kulturelle Rückständigkeit der Albaner, messbar am Analphabetentum oder an der Gewalt gegen Frauen. Laut Zidi Dervishi, Soziologe an der Universität Tirana, flüchteten Frauen vor totaler Rechtlosigkeit häufig in den Status einer „virgjën“, einer „Schwurjungfrau“. Sie schwören vor zwölf „Eideshelfern“ ab von Weiblichkeit, Ehe und Mutterschaft, legen männliche Kleidung an und üben fortan Pflichten und Rechte von Männern aus – mit ihnen in der Moschee zu beten, Patriarch in der Familie zu sein, Waffen und Armbanduhren zu tragen, ein Erbe anzutreten, zu rauchen, Alkohol zu trinken, im „Kuvend“, dem Rat der Familienoberhäupter, mitzureden, ohne jedoch Stimmrecht zu haben.

Von ihrer Umgebung werden sie als Männer akzeptiert, obwohl jeder weiß, dass sie biologisch Frauen sind. Sie tragen weibliche Vornamen und mussten keine operative Geschlechtsumwandlung vornehmen. Selbst in der kommunistischen Diktatur unter Enver Hodscha waren sie respektiert – als ordnende „Onkels“ in Familien, im Alltag und allen Berufen bis hin zu Offizieren und Parteifunktionären. Ihre bloße Existenz konnte als nationale Vorform von weiblicher Emanzipation durchgehen.

Linda Gusia und Aferdita Onuzi, Ethnografen von der Universität Tirana, sahen sie eher als gelungene Notwehr: Der Verzicht auf Liebe, Ehe, Sexualität und Mutterschaft wurde Schwurjungfrauen aufgewogen durch allgemeine Achtung und „Teilhabe am öffentlichen Leben in einer zerrissenen Gesellschaft, in der Männer die absolute Dominanz ausüben“.

Laut albanischen und anderen Fachpublikationen leben noch etwa 100 „Virgjineshte“, aber dagegen spricht das Wiederaufleben der vom „Kanun“ legitimierten Blutrache. Diese bricht aus nichtigen Anlässen zwischen zwei Clans aus, und Schwurjungfrauen mussten „einspringen“, wenn keine Männer für die Blutrache mehr lebten.

Laut dem Ethnologen Franz Baron Nopcsa waren in der Zwischenkriegszeit über 40 Prozent aller männlichen Todesfälle im albanischen Norden Folge von Blutrachefehden. Derzeit sollen erneut rund 15000 albanische Familien in solche Streitigkeiten verstrickt sein, brutalere als früher. Seit einigen Jahren wirkt im nordalbanischen Shkodra die „Stiftung zur Konfliktlösung und Versöhnung“ gegen den Teufelskreis von Isolation, Unbildung und Blutrache. Ob damit die Schwurjungfrauen „aussterben“? Nordalbanische Anwesen sind zumeist von hohen Mauern umgeben, und niemand weiß, was hinter diesen geschieht und ausgebrütet wird. Wolf Oschlies


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