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06.07.13 / »Er wäre ein hervorragender Bundeskanzler geworden« / Nach Willy Brandts Verzicht 1965 schien Fritz Erler der nächste Herausforderer Ludwig Erhards um die Kanzlerschaft zu werden

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 27-13 vom 06. Juli 2013

»Er wäre ein hervorragender Bundeskanzler geworden«
Nach Willy Brandts Verzicht 1965 schien Fritz Erler der nächste Herausforderer Ludwig Erhards um die Kanzlerschaft zu werden

Fritz Erler wäre ein hervorragender Bundeskanzler geworden. Das hat zumindest sein Parteifreund und Nachfolger als Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion Helmut Schmidt behauptet. Tatsächlich schien es 1965 kurze Zeit so, dass Fritz Erler eine Chance habe, wenn schon nicht Bundeskanzler, so doch zumindest Kanzlerkandidat seiner Partei zu werden. Prägende Kraft der westdeutschen Nachkriegspartei war Kurt Schumacher. Nach seinem Tod 1952 gelang es Erich Ollenhauer, noch einmal Partei- und Fraktionsvorsitz in seiner Person zu vereinen. Nach dessen Ableben 1963 kam es jedoch zur Machtteilung. Willy Brandt übernahm den Partei-, Erler den Fraktionsvorsitz. Mit ihrem Parteivorsitzenden als Kanzlerkandidaten zog die SPD 1965 in die Bundestagswahl. Nach der Wahl­nie­der­la­ge vom 19. September 1965 zog sich Brandt zumindest vorübergehend enttäuscht aus der Bundespolitik zurück und schloss eine weitere Kanzlerkandidatur aus. Die Stunde des in seinem Amt bestätigten SPD-Fraktionsvorsitzenden als nächster Kanzlerkandidat der SPD schien gekommen.

Mit Willy Brandt und Herbert Wehner gehörte Fritz Erler zu den Reformern der SPD, die aus der Arbeiter- eine Volkspartei machen wollten, was gerne am Godesberger Programm von 1959 festgemacht wird. Bemerkenswerterweise verband die drei Sozialdemokraten, die für diesen – vereinfacht ausgedrückt – Rechtsruck ihrer Partei maßgeblich verantwortlich zeichneten, allerdings auch, dass sie bis 1933 wegen ihres Linksradikalismus mit der Sozialdemokratie beziehungsweise die Sozialdemokraten mit ihnen gebrochen hatten. Wehner war zwar als Schüler Mitglied der SPD-nahen Sozialistischen Arbeiter-Jugend (SAJ) gewesen, aber bereits 1923 ausgetreten und 1927 KPD-Mitglied geworden. Brandt hatte 1931 mit der SPD gebrochen und sich der linkssozialistischen Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD) angeschlossen. Und Erler, der wie zuvor schon seine Mutter, eine Schneiderin, und sein Vater, ein Frisör, 1931 SPD-Mitglied geworden war, wurde im April 1933 aus der SPD und der SAJ, der er ab 1928 angehört hatte, ausgeschlossen. Vorher hatte er sich der nicht ohne Grund auch „Leninistische Organisation“ genannten Gruppe „Neu Beginnen“ angeschlossen.

Ungeachtet dieser Nähe zum Leninismus und seiner politischen Funktionen am Ende der Weimarer Zeit – er leitete den Bezirk Prenzlauer Berg der SAJ wie der SPD und war Vorsitzender der Sozialistischen Schülergemeinschaft von Groß-Berlin – konnte er seinen Berufswunsch, Beamter zu werden, auch nach der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ fortsetzen. Nach dem Abitur an der Königstädter Ober­real­schule hatte der am 14. Juli 1913 im Arbeiterviertel Prenzlauer Berg geborene Berliner ein Studium am Verwaltungsseminar Berlin aufgenommen, das er 1935 mit der 2. Abschlussprüfung regulär beendete. Anschließend war er im Wohlfahrtsamt Prenzlauer Berg als außerplanmäßiger Stadtinspektor bei der Stadtverwaltung beschäftigt. 1937 soll er sich sogar – wenn auch erfolglos – um die Mitgliedschaft in der NSDAP bemüht haben. 1938 musste er aus dem Staatsdienst ausscheiden, wurde während der Sudetenkrise Soldat und dann verhaftet. Der Volksgerichtshof verurteilte ihn 1939 zu zehn Jahren Zuchthaus wegen Vorbereitung zum Hochverrat. Erler hatte Auslandsreisen zu Kontakten mit Exilanten genutzt. Auf einem Transport nach Dachau konnte er im April 1945 fliehen. Bis zum Kriegsende verbarg er sich im südwestdeutschen Biberach.

Als NS-Verfolgter mit Verwaltungserfahrung, der schon als Schüler an einem Austauschprogramm mit Frankreich teilgenommen hatte und entsprechende Französischkenntnisse besaß, hatte Erler gute Chancen in der Französischen Besatzungszone, zu der Biberach nun gehörte. Nach einer vorangegangenen Dolmetschertätigkeit wurde er noch 1945 von den französischen Besatzern als Landrat in Biberach eingesetzt. Er verscherzte sich allerdings die Sympathien der Besatzungsmacht durch seine Unterstützung der Desertation aus deren Fremdenlegion. Wegen Beihilfe zur Flucht eines Fremdenlegionärs wurde er 1946 im Lager Balingen interniert.

1947 holte Carlo Schmid seinen Parteifreund – Erler war mittlerweile wieder SPD-Mitglied – nach Tübingen und auf die Landesebene. Aber diese blieb für diesen nur eine Zwischenstation. Nach der ersten Bundestagswahl wechselte Erler aus dem Landtag von Württemberg-Hohenzollern in den Deutschen Bundestag. Dort stieg er bis 1964 bis zum Vorsitzenden seiner Fraktion auf. Gelobt werden gemeinhin an dem gelernten Verwaltungsbeamten Organisations­talent, Tüchtigkeit, Fleiß, konsequente, beharrliche Arbeit an sich selbst, Wissen, Intelligenz, Beherrschung des politischen Metiers sowie schließlich eine rhetorische Begabung, die ihm erlaubte, druck­reif zu sprechen und überzeugend zu argumentieren.

Im Bundestag spezialisierte sich Erler auf ein Gebiet, das Sozialdemokraten traditionell eher fern liegt, aber aufgrund der deutschen Remilitarisierung damals in der bundesdeutschen Politik große Bedeutung gewann: das Militär. Erler entwickelte sich zum militärpolitischen Sprecher seiner Fraktion. Wie bei der Entwicklung vom Linksabweichler der SPD zum Befürworter des Godesberger Programms bewies Erler auch in der Militärpolitik eine überdurchschnittliche geistige Flexibilität. Schneller als andere SPD-Mitglieder entwickelte er sich von einem Gegner der Remilitarisierung zu einem Befürworter der auch militärischen Westbindung. In Brandts Schattenkabinetten für die Bundestagswahl von 1961 und 1965 war er beide Male als Verteidigungsminister vorgesehen.

Nachdem Brandt aus Enttäuschung über die verlorene Wahl 1965 eine erneute Kanzlerkandidatur ausgeschlossen hatte, schien niemand mehr zwischen Erler und der SPD-Kanzlerkandidatur für die nächste Bundestagswahl zu stehen. Aber es kam anders. Denn in eben jenem Jahr 1965 erkrankte er an Krebs. Um die Wende zum darauffolgenden Jahr erzwang ein erster schwerer Anfall seiner tödlichen Blutkrankheit eine längere Abwesenheit von der Politik. Im Herbst 1966 übernahm Helmut Schmidt erst einmal kommissarisch die Führung der Fraktion. Als nach dem Sturz von Erhard die SPD an der Seite der Union erstmals auf Bundesebene Regierungsverantwortung übernehmen konnte, war Erler bereits zu krank zur Übernahme eines Ministeramtes. Allerdings wissen wir, dass er die Beteiligung seiner Partei als Juniorpartner an der Großen Koalition begrüßt hat. Den Wechsel zur sozialliberalen Koalition mit seiner Partei als Seniorpartner hat er nicht mehr erlebt. Fritz Erler starb am 22. Februar 1967 in Pforzheim. Manuel Ruoff


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