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13.07.13 / »Weiter weg als bis zum Mond« / Vertriebene zieht Parallele ihrer eigenen Flucht zur Auswanderung der Chrysler-Vorfahren

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 28-13 vom 13. Juli 2013

»Weiter weg als bis zum Mond«
Vertriebene zieht Parallele ihrer eigenen Flucht zur Auswanderung der Chrysler-Vorfahren

In Tiegenhof in der Nähe von Danzig stand Familie Harder im September 1944 ein Ereignis bevor, dass man gemeinhin als ein freudiges bezeichnet. Doch damals war das tägliche Leben in Preußen von Sorge und Furcht vor der Zukunft überschattet, weil die Kriegsfront immer näher rückte.

Und da kam Karin auf die Welt, von Anfang an nicht das stärkste Kind. Als die Reichsregierung den preußischen Bürgern die Ausreise in den Westen erlaubte, überlegten sich viele, ob sie die Heimat wegen der herannahenden russischen Armee verlassen sollten. Familie Harder, Mutter, Großmutter und sechs Kinder, beschloss, wenigstens Weihnachten noch in der vertrauten Umgebung zu verbringen. Viel Zeit blieb nicht, um zu planen. Nur das Nötigste konnte mitgenommen werden, weil zu viel Ballast die Reise erschweren würde. Traurig holte Frau Harder mit ihrem 15-jährigen ältesten Sohn am Abreisetag im Januar 1945 das Vieh aus den Ställen. Es würde verenden, weil niemand mehr da war, um sich darum zu kümmern. Das Fuhrwerk war vor allem mit Kleidung und Lebensmitteln bepackt. Baby Karin reiste in dem mit Windeln dick ausgepolsterten Weidenkorb unter wärmenden Decken.

Ziel war die Halbinsel Hela, wo Schiffe die Flüchtlinge aufnehmen sollten. Zum Glück gab es Verwandte in der Nähe der Halbinsel, wo die Familie die Wochen bis zur Abreise verbringen konnte. Im April war es endlich soweit. Man hatte den Harders eine Überfahrt auf der „Urundi“, einem Frachtschiff, das Militärzwecken diente, zugesagt. Herr Harder, damals Soldat, hatte zur Unterstützung seiner Familie Urlaub bekommen. Während er mit den beiden älteren Buben für das Gepäck verantwortlich war, trug Frau Harder Karin im Weidenkorb. Der fünfjährigen Tochter war eingeschärft worden, sich an Mutters Mantel festzukrallen, damit sie nicht verlorenging. Die Großmutter kümmerte sich um die beiden drei- und siebenjährigen Söhne. Tausende von Flüchtlingen warteten darauf, an Bord zu gehen. Nie vergaß Mutter Harder den Anblick der an einem Baum aufgeknüpften desertierten Soldaten, unter dem sie Baby Karin vorübergehend deponierte. Und dann begann, was Mutter Harder später als Karins aufregendste Lebensphase bezeichnete. An Bord kam man nur über Strickleitern, deshalb wurde die Großmutter mit Karin und ihrer Schwester auf eine schwingende Planke gepackt und mit dem Lastenkran an Deck gehoben. Außer den Flüchtlingen transportierte das Schiff auch verletzte Soldaten. Bei der einige Tage dauernden Überfahrt lebten die Erwachsenen in ständiger Angst vor Bomben oder Torpedobeschuss. Krankheiten breiteten sich aus. Endlich angekommen, stellten die Reisenden überrascht fest, dass sie nicht in Deutschland, sondern in Dänemark waren, das damals von Deutschland besetzt war. Es versteht sich, dass man dort nicht mit offenen Armen aufgenommen wurde.

Außerdem muss es eine bemerkenswert schwierige logistische Aufgabe gewesen sein, so viele Menschen unterzubringen und zu verköstigen. Viele überlebten die Fahrt nicht und noch mehr starben in den Flüchtlingslagern. Vor allem die Harder‘schen Kleinkinder wurden vom Lagerarzt „abgeschrieben“. Es ist bewundernswert, wie Frau Harder es schaffte, Baby Karin und ihre Schwester trotz Diphterie am Leben zu erhalten. Bei ihrem dreijährigen Söhnlein gelang ihr das leider nicht. Zwei Jahre verbrachte die Familie in Dänemark, bis sie endlich in eine ungewisse Zukunft nach Deutschland entlassen wurde.

Ähnlich und doch ganz anders war die Situation am Mittelrhein im Winter 1708/1709, die in dem Buch über die Vorfahren des Autofabrikanten Walter. P. Chrysler „Kreißler – Chrysler, eine Auswanderungsgeschichte“ beschrieben wird. Eine Kältewelle ließ die Flüsse zufrieren, aber nicht nur das Wasser, auch die ausgebrachte Saat und viele Weinberge widerstanden den extremen Temperaturen nicht. Das brachte viele kleine Landwirte an den Rand ihrer Existenz. Über Auswanderung nach Amerika hatte man schon einiges gehört, und so entschlossen sich Tausende, den Schritt ins Ungewisse zu wagen. Die englische Regierung hatte ihnen in Nordamerika einen vielversprechenden Neuanfang in Aussicht gestellt. Und so war es nicht wie 1945 eine Flucht, die Familie Kreißler veranlasste ihr Heimatdorf zu verlassen, sondern der Wunsch nach einem besseren Leben. Anders als 1945 konnten die Kreißlers monatelang planen. Sie fanden Käufer für ihre Immobilien, das Vieh, den Hausrat und das sonstige Zubehör ihres Bauernhofs. Ausgestattet mit den für eine Auswanderung notwendigsten Dingen traten sie 1709 die Reise an. Mit dem Schiff ging es über Rotterdam nach England und von dort im Frühjahr 1710 nach New York. Ähnlichkeiten mit 1945 beginnen bei der Überfahrt. Monatelang musste man auf die Bereitstellung der Schiffe warten und nicht alle Ausreisewilligen hatten das Glück, auch mitgenommen zu werden. Genau wie 1945 überlebten 1710 viele Reisende die Überfahrt nicht. Von den insgesamt 3000 Passagieren (verteilt auf zehn Segelschiffe) starben wegen der schlechten Verhältnisse an Bord 470. Familie Kreißler verlor zwei der vier Kinder. Die Ankunft verlief problematisch. Wohin mit den vielen zum Teil erkrankten Leuten? Für die Amerikaner bedeutete das 1710 eine ebenso große Herausforderung wie für die Dänen 1945. Doch anders als in Dänemark und später in Deutschland wartete man in Amerika auf die neuen Siedler.

Obwohl mehr als 200 Jahre zwischen beiden Ereignissen liegen, werden sich die Gefühle beider Reisegruppen ziemlich ähnlich gewesen sein. Keiner wusste, was die Zukunft bringen würde. Man hatte alle Brücken hinter sich abgebrochen und würde nie erfahren, wie es in der Heimat weiterging; 1709, weil so gut wie kein Briefverkehr existierte und nach 1945 gab es dort keine Freunde mehr. Eine lebenslange Sehnsucht nach der verlorenen Heimat dürfte in allen gewohnt haben, die in der Fremde ein neues Zuhause suchten und, im Falle der Familien Kreißler und Harder, auch fanden. Doch für beide trifft zu, was Frau Harder Karin als Kind antwortete, als diese nach ihrem Geburtsort fragte: „Es ist eigentlich gar nicht so weit, aber wegen der Verhältnisse weiter weg als bis zum Mond.“ Karin Holl


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