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20.07.13 / Generalstabsmäßig geplanter Raub / Im August jährt sich zum 50. Mal der größte Eisenbahnüberfall aller Zeiten – Der Sender Arte erinnert an Tat und Täter

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 29-13 vom 20. Juli 2013

Generalstabsmäßig geplanter Raub
Im August jährt sich zum 50. Mal der größte Eisenbahnüberfall aller Zeiten – Der Sender Arte erinnert an Tat und Täter

Die Briten traf die Nachricht am Morgen des 8. August 1963 wie ein Schock: In der vorausgegangenen Nacht war der Postzug von Glasgow nach London überfallen worden. Eine Bande hatte rund 2,6 Millionen Pfund Sterling (nach heutigem Wert etwa 47 Millionen Euro) erbeutet, Notenbündel, die von der Bank of Scotland zum Schreddern nach London unterwegs waren. Der Coup war generalstabsmäßig geplant. Zwei Grün leuchtende Signale wurden mit Handschuhen abgedunkelt und durch rote Taschenlampen ersetzt. Der Lokführer, der dem Rotsignal entsprechend anhielt, wurde mit Schlägen überwältigt, der Postwagen abgekoppelt und von der Lok 800 Meter weit bis zu einer Brücke über eine einsame Landstraße gezogen. Dort wurden die Säcke der Royal Mail auf drei Lastwagen umgeladen. Eine angemietete, verlassene Farm war der erste Unterschlupf. Hier teilte die Gang ihre Beute. Die englische Polizei, zunächst unzureichend mit zwei Detektiven von Scotland Yard unterstützt, sperrte zwar sofort alle Straßen im Umkreis von 30 Meilen, aber sie entdeckte die Farm erst nach fünf Tagen. Die Galgenvögel waren ausgeflogen. Die Beute, die größte, die bisher bei einem Eisenbahn- und Postraub gemacht worden war, blieb größtenteils verschwunden.

Es fiel kein einziger Schuss. Dies ließ zusammen mit der Einmaligkeit und Präzision des Raubes nach erstem Entsetzen weltweit bald Schmunzeln und Sympathie für die Ganoven wachsen. Der Mythos „Gentlemen-Gangster“ war geboren.

Zwei Namen sorgten in den vergangenen 50 Jahren in den Boulevard-Gazetten für immer neue Schlagzeilen: Ronald Biggs und Bruce Reynolds. Der eine durch seine spektakuläre Flucht aus einem englischen Gefängnis, der andere als Anführer und genialer Kopf der Bande, der den Plan ausgeheckt und die Komplizen angeworben hatte. Darunter auch zwei Anwälte, ein Boxer, ein Buchmacher, ein Blumenhändler, ein Cafe-Besitzer und ein pensionierter Lokführer.

14 Mann insgesamt, dazu noch einige im Dunklen gebliebene Helfer. Die meisten schon mit etwas Dreck am Stecken. Einige wurden bald gefasst, weil sie mit ihrer Beute hohe Ausgaben machten – einer kaufte ein Luxusauto, zwei andere mieteten sich in Nobelherbergen ein –, weiteren kam die Polizei in Wochenabständen auf die Spur. 1964 verurteilte sie ein überaus strenger Richter zu Haft zwischen sieben und 30 Jahren. Die unverhältnismäßig hohen Strafen führten 1975 zu einer Strafrechtsreform und zur Begnadigung der meisten. Bruce Reynolds, der sich anfangs fünf Jahre in England versteckt halten konnte, kam erst 1978 frei und setzte sich nach Rio ab. Ronald Biggs floh schon nach einem Jahr mit einer Strickleiter, die ihm Helfer über die Mauer geworfen hatten, über Frankreich und Australien nach Brasilien, kam aber 2001, als er altersmüde und krank nach England zurück­ge­kehrt war, noch einmal in Haft.

In Deutschland, wo das Wort Postraub entstand – in den englischsprachigen Ländern hieß es „trainrobbery“ (Zugraub) –, schrieben die Posträuber Fernsehgeschichte. Ein Tatsachenbericht, den Henry Kolarz, Edelfeder des „Stern“, verfasst hatte, ani­mierte den damaligen NDR-Fernsehspiel-Chef Egon Monk zu dem dreiteiligen TV-Film „Die Gentlemen bitten zur Kasse“. Es war der erste Film zu dem Thema, Briten und Amerikaner nahmen sich (weniger dokumentarisch) erst später des Themas an. Die Produktion, die im Februar 1966 in der Bundesrepublik erstmals ausgestrahlt wurde, erwies sich als „Straßenfeger“ mit einer nie wieder erreichten Einschaltquote von 90 Prozent. Henry Kolarz schrieb zusammen mit Robert Muller das mit Phantasie angereicherte, jedoch weitgehend authentische Drehbuch. John Olden, Wiener mit britischem Pass und mit Inge Meysel verheiratet, führte Regie. Als er noch während der Dreh­arbeiten starb, setzte Claus Peter Witt sein Werk ohne Brüche fort. Horst Tappert spielte den Reynolds, Grit Böttcher seine Frau, Kurt Conradi den Biggs, Siegfried Lowitz den Chefermittler von Scotland Yard. Dazu Günther Neutze, Hans Cossy, Paul Edwin Roth – um nur einige aus der exzellenten Darstellerriege zu nennen.

Die Namen der Ganoven mussten aus rechtlichen Gründen geändert werden. Das führte, wie Horst Tappert gern erzählte, beim Drehen vielfach zu Verwirrung. „Uns waren die Originalnamen allemal geläufiger als die im Drehbuch.“ Von den Engländern, die noch an der Schmach kauten, gab es keine Unterstützung. Nur einige Szenen entstanden ohne Genehmigung mit versteckter Kamera in England. Der Zugüberfall wurde zum Beispiel auf einer Nebenbahnstrecke bei Göttingen nachgestellt. Gezogen wurde der Zug von einem Exemplar der Baureihe V 200, einer der ersten Diesel-Streckenlokomotiven der Deutschen Bundesbahn. Die Fernsehzeitschrift „Hörzu“, welche die beiden Regisseure (Olden posthum) 1968 mit der Goldenen Kamera ehrte, führte später einmal Horst Tappert am Original-Tatort mit Bruce Reynolds zusammen. Tappert lobte: „Genau wie damals nahe Göttingen nachgestellt.“ Und Reynolds amüsierte sich, dass der „Ganove“ Tappert von einst jetzt als „Derrick“ einen Kriminal-Oberinspektor spielte.

50 Jahre lang waren die Polizeiakten unter Verschluss. Nachdem sie jetzt Historikern zugänglich geworden sind, drehte der mehrfach dekorierte deutsche Filmemacher (und Produzent von „Lichtblick“) Karl-Ludwig Rettinger für den deutsch-französischen Kulturkanal Arte ein zweiteiliges Dokudrama mit dem listig gewählten Titel „Die Gentlemen baten zur Kasse“. Arte zeigt die beiden Teile hintereinander am Freitag, den 2. August von 20.15 bis 23.15 Uhr.

Im ersten Teil nutzt Rettinger die spannendsten Szenen aus dem Klassiker von einst und mischt sie mit berichtigenden Informationen. Noch einmal Krimigenuss. Im zweiten Teil kommen letzte Zeitzeugen zu Wort, darunter auch Bruce Reynolds, der Anfang 2013 noch während der Dreharbeiten verstarb. Sein Sohn Nick, inzwischen 52 und ehrenwerter Musiker und Komponist in der Rockband „Alabama 3“, erzählt aus seinen wechselvollen Kindertagen und steuert aus dem Nachlass mit der Super 8 gefilmte Familienidylle bei. Auch eine kurze Szene aus einem weniger beachteten deutschen Fernsehfilm von 1972 über Flucht und Verfolgung der Posträuber („Hoopers letzte Jagd“) ist zu sehen – Horst Tappert diesmal zusammen mit Liselotte Pulver. Über Versäumnisse von Scotland Yard, Spitzeldienste und Korruption wird räsoniert, und der legendäre Gangsterboss Fred Foreman (Godfather of British Crime) beschreibt die einstige Londoner Kriminellen-Szene aus Insider-Sicht.

Letzte Bilder in den zweimal 90 Minuten Dokudrama: die blumenreiche Beisetzung von Bruce Reynolds, Sohn Nick mit seinen beiden wohlgescheitelten Buben hinter dem Sarg. Und als aktuelle Krisen-Kritik die Türme unserer Großbanken, wo heute Abermillionen „verbrannt“ werden, und kein Kadi schert sich drum. Karlheinz Mose


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