19.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
03.08.13 / »Was geht dort vor? Ist dort Krieg?« / Neue russische Erkenntnisse zu den sowjetisch-chinesischen Kontroversen der 60er Jahre

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 31-13 vom 03. August 2013

»Was geht dort vor? Ist dort Krieg?«
Neue russische Erkenntnisse zu den sowjetisch-chinesischen Kontroversen der 60er Jahre

Anfang der 60er Jahre überraschte eine rapide Verschlechterung der sowjetischen Beziehungen zum sozialistischen Nachbarn China die Weltöffentlichkeit. Russische Forscher sind den Ursachen nun auf den Grund gegangen.

Noch Ende der 50er Jahre waren die Beziehungen zwischen den beiden sozialistischen Staaten gut. So wurde erst kürzlich bekannt, dass die sowjetische Führung noch Mitte 1959 blitzschnell auf Bitten der chinesischen Genossen reagierte und den wegen der ständigen Einflüge hochmoderner taiwanesischer Kampfflugzeuge besorgten Festlandchinesen heimlich modernste radargelenkte Flugabwehrraketen vom Typ S-75 zur Verfügung stellte. Eine sowjetische Militärdelegation unter Leitung von Generaloberst Chlebnikow bildete vor Ort die chinesischen Raketenspezialisten aus. Am Morgen des 5. Oktober 1959 fragte der chinesische Verteidigungsminister Marschall Lin Piao den sowjetischen Oberst Sljussar, ob er es sich mit den nahe Peking stationierten Raketenkomplexen zutraue, einen der regelmäßig Peking überfliegenden taiwanesischen Höhenaufklärer abzuschießen. Sljussar sagte „ja“ und holte mit einer einzigen Rakete zwei Tage später einen taiwanesischen Aufklärer vom US-amerikanischen Typ RB-57 D aus großer Höhe vom Himmel, was zur Folge hatte, dass die Taiwanesen ihre Luftaufklärung über der Volksrepublik beendeten.

Doch schon kurz darauf bewogen geopolitische Streitigkeiten das Reich der Mitte dazu, die Beziehungen zur Sowjetunion jäh abkühlen zu lassen. Einerseits fühlte man sich im militärisch-politischen Dauerkonflikt mit Indien von der Sowjetunion nicht ausreichend unterstützt. Andererseits wollte man gern beträchtliche Teile Sibiriens und des Fernen Ostens von der Sowjetunion zurückerhalten. Zudem stieß der hyperaktive Parteiführer Chruschtschow seinen Kollegen Mao Tse Tung wiederholt kräftig vor den Kopf. So bot Chruschtschow Mao im Überschwung der Gefühle an, eine Million Chinesen in Sibirien anzusiedeln. Doch als Mao auf diese Offerte ernsthaft zurückkommen wollte, schreckte der sowjetische Parteiführer zurück. Seine Berater hatten ihm nämlich klargemacht, dass die Chinesen „Sibirien auf diesem Wege ohne Krieg okkupieren könnten“.

Anfang 1960 zog die Sowjetunion schließlich alle zivilen und militärischen Spezialisten zurück, darunter auch jene, die seit Juni 1959 beim chinesischen Atomwaffenprojekt mitarbeiteten. Doch China konnte sich allein behelfen und zündete erfolgreich im Oktober 1964 die erste Atombombe.

Ab sofort schrillten beim sowjetischen Militär alle Alarmglocken und man beriet im April 1967 innerhalb der sowjetischen militärischen Führung ernsthaft einen seit 1963 ausgearbeiteten Plan namens „Chruschtschow“, der vorsah, mit Unterstützung einer fünften Kolonne aus Mao-Gegnern innerhalb Chinas sowie in der Sowjetunion ausgebildeter Exilchinesen alle chinesischen Atomforschungseinrichtungen und Raketenstartrampen in einer Prä­ventiv­aktion zu zerstören. Angesichts der vagen Aussichten einer derartigen Operation schreckte man davor zurück und bemühte sich, die politisch wie militärisch immer chauvinistischer und rabiater agierenden Chinesen durch eigene Handlungen nicht unnötig zu reizen.

Gleichzeitig entwickelte sich der chinesische Geheimdienst zu einem wahren Angstgegner des KGB. Denn er war nicht nur zahlenmäßig viel stärker, sondern verfügte mit den in Nordchina nach 1920 angesiedelten Exilrussen über ein großes Potenzial nicht nur russisch aussehender, sondern auch perfekt russisch sprechender Agenten. Erinnerungen sowjetischer Spionageabwehrspezialisten besagen, dass man damals nahezu hysterisch nach eingeschleusten chinesischen Agenten zu suchen begann.

Trotz zunehmender chinesischer Grenzprovokationen an der 7500 Kilometer langen sowjetisch-chinesischen Grenze setzte man sowjetischerseits auf strikte Deeskalation und verbot sogar den Grenzsoldaten den Schusswaffengebrauch gegenüber chinesischen Grenzverletzern. Selbst als man 1969 große Truppenbewegung aus Innerchina an die sowjetische Grenze erkannte, verlegte man aus Deeskalationsgründen die Divisionen der Sowjetarmee in Fernost und im Baikalgebiet nicht näher an die Grenze.

Als es schließlich ab 2. März 1969 im Gebiet der Amurinsel Damanskij doch zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen sowjetischen Grenzern und Einheiten der chinesischen Volksbefreiungsarmee kam, muss­ten die zum KGB gehörigen Grenztruppen hohe Verluste hinnehmen, weil die alarmierten sowjetischen Heeres- und Luftwaffeneinheiten sie – wenn auch zähneknirschend – befehlsgemäß nicht unterstützten. Solange nämlich die Grenzer kämpften, war es nur ein „Grenzkonflikt“, der Einsatz regulärer sowjetischer Truppen hätte hingegen „Krieg“ mit China bedeutet. Generalsekretär Breschnew persönlich rief damals den Stabschef der Grenztruppen, General Matrossow, an und fragte hochbesorgt: „Was geht dort vor? Ist das Krieg?“ Einzig die übermenschliche Standhaftigkeit der nur leichtbewaffneten sowjetischen Grenzeinheiten im Bunde mit den schließlich erlaubten, massiven Feuerschlägen der Sowjetarmee auf chinesische Truppenmassierungen und Reserven bis auf eine Tiefe von 20 Kilometer jenseits der Grenze stoppten schließlich die chinesischen Militäraktionen, wobei sich beide Seiten zum Sieger erklärten. Während fünf sowjetische Grenzsoldaten, teilweise postum, zu „Helden der Sowjetunion“ erklärt wurden, präsentierte die chinesische Armee gleich zehn noch lebende „Helden Chinas“. Ab diesem Ereignis zählte China neben den USA zu den Hauptfeinden der Sowjetunion, während die Chinesen sich im Gegenzug den USA annäherten. 1971 begann die sogenannte Ping-Pong-Diplomatie, die letzt­endlich zum Besuch des US-Präsidenten Richard Nixon in der Volksrepublik führte, wo er unter anderem Mao Tse Tung traf. Jürgen W. Schmidt


Artikel per E-Mail versenden
  Artikel ausdrucken Probeabobestellen Registrieren