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17.08.13 / Den »Niederungen« entkommen / Zum 60. Geburtstag von Herta Müller – Die Rumäniendeutsche erhielt 2009 den Nobelpreis für Literatur

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 33-13 vom 17. August 2013

Den »Niederungen« entkommen
Zum 60. Geburtstag von Herta Müller – Die Rumäniendeutsche erhielt 2009 den Nobelpreis für Literatur

Die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller wird am 17. August 60 Jahre alt. In ihren Büchern beschreibt die Rumäniendeutsche aus dem Banat das Schicksal ihrer Landsleute während der kommunistischen Diktatur. Die Banater Schwaben und die Siebenbürger Sachsen bilden heute in Rumänien nur noch eine kleine Minderheit.

Die lang gestreckten Siedlungshäuser stehen eng an eng, aufgereiht wie an einer Messschnur, ordentlich, deutsch. Auf dem struppigen Grünstreifen davor laufen Gänse. Die Dorfstraße ist mit Schotter bestreut. Die älteren Frauen tragen Kittelschürze und Kopftuch. Es hat sich äußerlich nicht viel verändert in Nitzkydorf, seitdem Herta Müller 1987 das Banat verließ. Die Schriftstellerin hat dem Dorf, in dem sie geboren wurde und ihre Kindheit verbrachte, ein literarisches Denkmal gesetzt. Manche Banater Schwaben haben ihre Probleme damit. Herta Müller beschreibt die deutsche Enklave in „Niederungen“ als Ort der Engstirnigkeit, Bigotterie und dumpfer Sexualität. Der Prosaband war ihr erstes Buch, das 1982 im deutschsprachigen Bukarester Kriterion Verlag in zensierter Fassung erschien.

In Nitzkydorf lebten 1977 nach Angaben der Banater Landsmannschaft noch 1125 Deutsche, sie machten 80 Prozent der Einwohner aus. Heute sind es keine 20 Deutschstämmige mehr. Das Dorf heißt nun zu Recht rumänisch Nitchidorf. Enteignet, eingeschüchtert und von der Securitate bespitzelt, sahen die Banater Schwaben und Siebenbürger Sachsen in dem Land ihrer Väter keine Zukunft mehr. Über 225000 Rumäniendeutsche verließen von 1967 bis 1989 ihre Heimat, ein lukratives Geschäft für Ex-Diktator Nicolae Ceausescu, der jeden einzelnen für ein Kopfgeld zwischen 4000 und 10000 Mark, je nach Alter und „Wert“, an die Bundesrepublik verkaufte.

Herta Müller dokumentiert in ihren Büchern, was lange verschwiegen wurde: Wie die Rumäniendeutschen nach dem Zweiten Weltkrieg als „Kollaborateure Hitlers“ diskriminiert und geschunden wurden („Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt“, „Der Fuchs war damals schon der Jäger“). Aus Bürgern, deren Familien seit Jahrhunderten im Karpatenbogen siedelten und es als Bauern und Kaufleute zu Wohlstand brachten, waren Menschen zweiter Klasse geworden. Auch der Großvater Herta Müllers musste seinen Besitz an den Staat abtreten, ihr Vater ernährte die Familie als Lastwagenfahrer.

Es gab im Haus der Eltern eine Taschentuchschublade, in der streng getrennt die Männer-, Frauen- und Kindertaschentücher lagen, Synonym einer Jugend in den Normen und Traditionen der Banater Schwaben. „Die Schublade war unser Familienbild im Taschentuchformat“, sagt Herta Müller. „Man ging nicht ohne Taschentuch, man brauchte es, um hinein zu weinen, um es in den Fäusten zu pressen.“

Die Mutter wollte, dass ihre Tochter Schneiderin lernte und in Nitzkydorf blieb, weil sie nicht in der Stadt verdorben werden sollte. Herta Müller setzte durch, dass sie nach Temeswar auf das Nikolaus-Lenau-Lyzeum gehen und dort ihr Abitur machen durfte.

Als sie an der Universität von Temeswar Germanistik und Rumänistik studierte, lebten noch viele Deutsche in der zweitgrößten Stadt Rumäniens, heute sind noch etwa zwei Prozent der 310000 Einwohner Deutsche. Sie versuchen, ihre Identität und Tradition hochzuhalten. Neben dem Nikolaus-Lenau-Lyzeum, das nun vor allem von rumänischen Schülern besucht wird, denn gute Kenntnisse der deutschen Sprache erscheinen vielen jungen Leuten als Garant für eine bessere Zukunft, gibt es noch weitere deutsche Schulen und Kindergärten. Die „Allgemeine Deutsche Zeitung“ für Rumänien hat eine Auflage von immerhin 15000 Exemplaren. Das Gros der Abonnenten wohnt allerdings im Ausland. Radio Temeswar sendet zwei Stunden täglich ein deutsches Programm, ebenso wie Programme für andere Minderheiten.

Das Deutsche Staatstheater Temeswar führt deutsche Klassiker und junge Autoren auf. Im vergangenen September erlebte hier die Bühnenversion von Herta Müllers „Niederungen“ ihre umjubelte Uraufführung. Inszeniert hat das Stück Niky Wolcz, der aus Temeswar stammt und wie viele intellektuelle Emigranten aus dem Banat im Ausland Karriere machte. Er lehrt als Professor an der Columbia University of New York.

Wer unter der Diktatur Ceau­ses­cus, in den „schwierigen Zeiten“, wie es auf der Internetseite des Theaters formuliert wird, überleben wollte, durfte die Staatsmacht nicht reizen. Anpassung, Taktieren und Lavieren waren niemals die Sache von Herta Müller. Wie man in der Diktatur mit der Meinung, der eigenen, verfährt, lässt sie den Direktor einer Maschinenfabrik in ihrem Buch „Niederungen“ erläutern. Man darf eine eigene Meinung haben, aber man muss sie für sich behalten. Natürlich wurde dieses Kapitel für die Kriterion-Fassung gestrichen. Der Hanser Verlag hat es in der jüngsten Ausgabe des Prosabands wieder eingefügt.

Als Sympathisantin der Ak­tionsgruppe Ba­nat, einem Zu­sam­menschluss junger Oppositioneller, geriet Herta Müller schnell ins Visier der Securitate. Mit Drohungen versuchte der Geheimdienst, die junge Frau gefügig zu machen und sie zu Spitzeldiensten zu bewegen.

Herta Müller widerstand und bekam die Quittung. Sie verlor ihre Stellung als Übersetzerin in einer Maschinenfabrik und durfte nicht mehr veröffentlichen. Ausgesperrt saß sie auf der Treppe vor ihrem Büro und presste ihr Taschentuch. „In der Diktatur ist alles sehr nackt“, kommentiert sie, „man sieht alles, was man nicht sehen soll. Und man sieht auch, wie Literatur sich auswirkt. Kaum hast du was geschrieben, kommt schon der Geheimdienst. Das ist die Angst des Repressionsapparates vor der Literatur und auch der Dringlichkeit, mit der Bücher gelesen werden.“

Der Empfang in der Freiheit war anders als erwartet. Nach ihrer Ankunft im Nürnberger Auffanglager wurde sie erneut verhört, weil sie im Verdacht stand, Inoffizielle Mitarbeiterin (IM) der Securitate zu sein. Diese Behandlung hat sie bis heute nicht verwunden, wie sie kürzlich bitter in einem Beitrag in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ klagte. Auch Schmähungen von Banater Schwaben, die ihr „Nestbeschmutzung“ vorwerfen – die nicht enden wollenden Herabsetzungen ihrer Person –, treffen sie schwer.

2009, im Jahr, in dem sie den Literaturnobelpreis erhielt, erschien das eindringlichste und beklemmendste Buch Herta Müllers: „Atemschaukel“. Sie hat es nach den Aufzeichnungen ihres Freundes Oskar Pastior geschrieben, der wie Zehntausende Rumänendeutsche und wie die Mutter der Schriftstellerin nach 1945 in russischen Arbeitslagern für den „Wiederaufbau“ der Sowjetunion unmenschlich schuften musste. Im Herbst 2010 ging durch die Presse, dass im Archiv der rumänischen Aktenbehörde eine 241 Seiten starke Dokumentation über Oskar Pastior alias „IM Otto Stein“ existiert. Über seine Rolle als „IM Stein“ konnte Pastior keine Auskunft mehr geben. Er starb 2006.

Herta Müller wohnt und arbeitet in Berlin. Ihr jüngstes Werk „Vater telefoniert mit den Fliegen“ erinnert an die Collagen und Montagen der Dadaisten: Wörter, aus Zeitungen und Illustrierten, ausgeschnitten und wie ein Puzzle zu scheinbar sinnlosen Sätzen ohne Interpunktion zusammengeklebt:

„Beim grauen Eisenturm zog die rote Kuh den weißen Umhang an von einem Gänseschwarm ging heim durchs grüne Tal da man sie im weißen Stall nicht sah.“ Wer Herta Müllers Bücher kennt, entdeckt hinter jedem Wort Erinnerungen der Autorin an die Jugend und Anklagen an den Terror, den die Rumäniendeutschen erlitten haben. Klaus J. Groth


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