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24.08.13 / »Schattenboxen mit der Vergangenheit« / USA: Der Prozess um den Mafia-Boss James Bulger bot auch Einblicke in FBI-Machenschaften

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 34-13 vom 24. August 2013

»Schattenboxen mit der Vergangenheit«
USA: Der Prozess um den Mafia-Boss James Bulger bot auch Einblicke in FBI-Machenschaften

Jede Stadt hat ihren Charakter und damit ihren Ruf. Und was kommt einem in den Sinn, wenn man an Boston denkt? Eine Stadt der Intellektuellen mit ihren Universitäten wie Harvard, wo Präsident Barack Obama, seine Ehefrau Michelle und auch sonst die Elite der US-amerikanischen Intelligenz studiert hat. Die besten Hospitäler, schöne Parks und verführerische Restaurants und Cafés, in denen Künstler und Intellektuelle diskutieren und Geschäftsleute wichtige Verträge abschließen. Boston ist vom Feinsten, was Amerika zu bieten hat, und eine brutale kriminelle Tat wie kürzlich die Bombe am Zieleinlauf des berühmten Boston-Marathons scheint in diese geordnete Welt überhaupt nicht zu passen.

Doch das war nicht immer so, wie der nichtsahnende Bewunderer dieser kosmopolitischen US-Stadt nun erfahren musste. Ein aufsehenerregender Prozess rief in diesen Tagen eine ganz andere Zeit in Erinnerung. Vor Gericht steht James L. „Whitey“ Bulger, 83 Jahre. Der silberhaarige Herr mit der Aura eines sympathischen Professors (sein Bruder Bill war Präsident des Senats und der Universität von Massachusetts) galt in den 70er Jahren als einer der gefährlichsten und meistgesuchten amerikanischen Mafia-Bosse. Er betrieb seine Geschäfte, vor allem Drogenhandel, im großen Stil von seinem Haus in Bostons damals berüchtigtem Südteil, „Southie“ genannt. Morde, Erpressungen, Überfälle – alles, was der Mafia lieb und teuer ist, war an der Tagesordnung in einem Netzwerk von zumeist irisch-katholischen Kriminellen, bestochenen Politikern und korrupten FBI-Agenten, das die Bürger in Angst und Schrecken versetzte. Mit Ausnahme von einer kurzen Zeit im berüchtigten Gefängnis Alcatraz, war Bulger auf freiem Fuß, und Gerüchte schwirrten, dass er ein Geheim-Informant des FBI gewesen sei (was er entschieden bestreitet), geführt von einem FBI-Agenten namens John Conolly, einem alten Kumpel aus „Southie“, der ihm entscheidende Tipps gab für seine Geschäfte und ihn 1994 vor einer Verhaftung warnte, worauf Bulger für 16 Jahre untertauchte. Erst im letzten Jahr wurde er in Los Angeles, wo er jahrelang mit seiner Freundin behaglich in Strandnähe wohnte, entdeckt und verhaftet.

Eine lange Schlange bildete sich jeden Morgen vor dem Gerichtsgebäude, um die Ankunft von „Whitey“ zu erleben, der wie ein Rock-star mit einem Polizeiauto-Konvoi zu seinem Prozess gebracht wurde. Und dort traten, einer nach dem anderen, die farbigen Vertreter der einstigen Bostoner Unterwelt als Zeugen auf. Alle offiziell auf freiem Fuß, da sie als Zeugen gebraucht wurden: Steve „The Rifleman“ Flemmi, der Opfern die Zähne entfernte, damit man sie nicht identifizieren konnte. John „The Enforcer“ Matorano, der sich brüstet, 20 Leute umgebracht zu haben und nur zwölf Jahre hinter Gittern verbrachte. Kevin Weeks (fünf Jahre im Knast), einst Bulgers Schützling, der behauptet, ihm geholfen zu haben, diverse Leute umzubringen. Wie Patrick Nee, der angeblich mit Bulger fünf Leute ins Jenseits beförderte und der demnächst als Star in einer TV-Sendung des Discovery-Kanals über Bostons einstige Buchmacher zu sehen sein wird.

„Whitey“ Bulger selber nahm den ganzen Trubel und den Verrat seiner einstigen Genossen gelassen und sah offenbar seinem zu erwartenden Ende hinter Gittern mit Ruhe entgegen. Doch Bürger und Presse von Boston fühlen sich wie im Kino, weil das Szenario von damals mit ihrer kosmopolitischen Stadt von heute gar nichts mehr zu tun hat. Selbst der „Southie“ ist eine schicker Stadtteil geworden mit gepflegten Straßen, eleganten Geschäften, teuren Restaurants und hohen Grundstückspreisen. Bulgers altes Haus, wo seine Opfer litten, beherbergt heute eine Sushi Bar. Manche finden deshalb, der große Prozess sei vergeudetes Geld. „Es dient seinem Ego“, meint Kevin Cullen, Kolumnist des „Boston Globe“, der ein Buch über Bulger geschrieben hat. „Aber es ist auch ein Schattenboxen mit der Vergangenheit … mit dem Ausmaß an offizieller Korruption, für das viele Familien der Opfer noch heute nach einer Antwort suchen und das wir klären müssen.“

Dick Lehr, Professor an der Boston Universität und Co-Autor des Buches „Whitey. Das Leben von Amerikas berüchtigstem Mob-Boss“, sieht den Prozess ebenfalls als ein Stück Zeitgeschichte. „Ich finde das Verfahren keineswegs irrelevant. Er ist vor allem auch eine Erinnerung daran, wie zutiefst defekt und gesetzlos das FBI damals in Boston war. Und ich meine, das sollte man nicht vergessen.“ Liselotte Millauer


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