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31.08.13 / Viel zuviel Diagnose und Behandlung

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 35-13 vom 31. August 2013

Moment mal!
Viel zuviel Diagnose und Behandlung
von Klaus Rainer Röhl

Mein Großvater mochte keine Ärzte. Der Korbmacher-Meister aus Danzig schwor auf Prießnitz. Vincenz Prießnitz, den Naturheilapostel. Der alle Leiden mit kalten Wassergüssen und Dampfkompressen, vor allem aber durch Abhärtung heilte. Es ist nicht überliefert, wie mein Großvater mütterlicherseits auf Prießnitz gekommen war. Jedenfalls schwor er auf Abhärtung durch kaltes Wasser. Dass er manchmal sogar an die im Winter gelegentlich zugefrorene Ostsee fuhr, ein Loch in die Eisdecke schlug (was damals Anwohner taten, um Fische zu fangen) und in ein solches Loch sprang, gehört zu den Familien-Sagas, die im Laufe der Zeit für bare Münze genommen werden. Sicher war das eine Ausnahme, aber die kalten Wassergüsse und die Schwitzkuren und Dampfkompressen mit anschließendem Schlauchguss waren unser Danziger Ersatz für die erst später in Mode gekommene Sauna. Und die Prießnitz-Kur schien ihm gut getan zu haben. Er war nie krank. Einmal aber bekam er doch eine schwere Erkältung mit hohem Fieber. Meine Großmutter holte nun, gegen seinen Willen, einen Arzt. Der untersuchte ihn und staunte: „Ihr Mann hat eine Lungenentzündung – gehabt!“ Eine Lungenentzündung war damals, vor der Erfindung des Penicillins, meistens tödlich. Er aber hatte sie aus eigener Kraft überwunden.

Gegen seinen frühen Tod half keine Abhärtung. Er starb in einem russischen Lager, in das er eingeliefert wurde, weil er Luftschutzwart gewesen war. Auf der Armbinde, die ihn als Luftschutzwart auswies, war ein Hakenkreuz Das genügte. Ich bewahre meinem Großvater ein dankbares Angedenken und behielt seine Vorliebe für Seewasser und eine gesunde Scheu vor Arztbesuchen. Erst mal die Selbstheilung mobilisieren. Mein PSA-Wert ist zu hoch, mein Blutdruck auch, meine Cholesterinwerte sind katastrophal, und ein weiterer Risikofaktor, das Alter von fast 85 Jahren, ist nicht zu leugnen.

Trotzdem lebe ich beschwerdefrei, wenn ich nicht gerade eine Talkshow mit Gregor Gysi und der Chefredakteurin der „taz“ sehe, das hält kein Schwein aus. Auch wenn man hört, dass die Bremer Schlägertrupps Bernd Lucke von der „Alternative für Deutschland“ und seine Zuhörer mit Messern und Reizgas angegriffen haben, geht der Blutdruck hoch. Soll er auch, das ist ganz natürlich. Aber ich werde das Gefühl nicht los, eigentlich gesund zu sein. Trotzdem vermeide ich es, mich mit meiner Ärztin zu verkrachen. Nicht misstrauisch sein. Ruhig Blut und brav den Blutdruck messen und die Cholesterin-Werte und den 40 Euro extra kostenden PSA-Test machen und dabei nicht immer gleich das Schlechteste von den Menschen denken.

Von Zeit zu Zeit wird man aber doch stutzig. Hier nur die Nachrichten der letzten Woche: Die Zahl der Operationen in Deutschland steigt – seit 2005 um mehr als ein Viertel. Von 12,1 Millionen auf 15,4 Millionen. Gemessen an der Bevölkerungszahl steht Deutschland damit weltweit an der Spitze.

Ein internationaler Vergleich der OECD ergab, dass von 1000 Einwohnern Deutschlands 240 Klinik-Aufenthalte im Jahr in Anspruch nehmen.

Auch bei Herz-Kreislaufbehandlungen und künstlichen Hüften ist Deutschland Weltmeister.

Die Zahl der Wirbelsäulen-Operationen hat sich von 2005 bis 2011 mehr als verdoppelt – von 32700 auf 73400.

Auch in der Anzahl der Knie-Operationen liegt Deutschland vorn.

Das Einkommen der niedergelassenen Ärzte ist nach jüngsten Erhebungen des Statistischen Bundesamtes deutlich gestiegen. Zwischen 2007 und 2011 habe der Zuwachs im Schnitt 17 Prozent betragen, berichteten das Nachrichtenportal „Spiegel Online“ und die „Süddeutsche Zeitung“.

Korruption wird bei Ärzten nicht bestraft. Denn nach einem Urteil des Bundesgerichtshofs dürfen Ärzte als freie Unternehmer nicht wegen Bestechlichkeit verfolgt werden.

Sind die Deutschen die kränksten Bewohner Europas? Oder gehen sie nur häufiger zum Arzt? Eins steht jetzt schon fest: Sie sind die besten Kunden der Pharmaindustrie.

Also mal der Reihe nach, ohne die den Blutdruck steigernde Aufregung. Wer einen Beruf ergreift, will ihn auch möglichst erfolgreich ausüben. Ein einfaches Beispiel: Wer nach dem Jurastudium Strafverteidiger wird, will, dass seine Mandanten freigesprochen werden – wer Richter wird, will Leute verurteilen. Nicht anders bei den Medizinern. Wer die lange und teure Ausbildung zum Chirurgen gemacht hat, will operieren, das ist sein Beruf. Soll er seinem Patienten sagen: „Sie haben einen Darm-Abszess, aber machen sie eine Kur mit Salzwasser“? Eine halbwegs komplizierte Operation bringt dem Arzt – gleich, ob sie privat bezahlt wird oder die Kasse die Kosten übernimmt – bis 5000 Euro ein. Ist er ein guter Chirurg, macht er viele Operationen am Tag. Soll er auf das Geld verzichten? Er hat schließlich auch Familie.

Hat aber einer, ob Chemiker, Mediziner oder Jurist, den Beruf des Generalvertreters oder Lobbyisten eines Pharmakonzerns gewählt, wird er sich mit allen Kräften dafür einsetzen, sein Produkt zu verbreiten, Schaden von ihm abzuwenden und den Umsatz zu steigern. Wegen der großen Anstrengungen der Konkurrenz und der gestiegenen Kosten muss er den Umsatz sogar ins Gigantische steigern. Er wird, wenn er seinen Job gut macht, prominente Wissenschaftler suchen, die z.B. den Nachweis erbringen, dass der Grenzwert für Cholesterin nicht mehr wie früher 250 ist, sondern auf neuerdings unter 200 Milligramm pro Deziliter Blut gesenkt wird, und der krankhafte Bluthochdruck beginnt bei 140 und nicht wie früher bei 160. Die Folge: Der Umsatz mit den Blutdrucksenkern und den Cholesterin-Bremsern schnellt in ungeahnte, gigantische Höhen, aber ohne den Riesenumsatz ginge es bergab mit dem Konzern. Die Strategen und Lobbyisten des Pharmakonzerns haben auch Familie.

Niemand ist persönlich daran schuld, dass in den meisten Ländern der Welt die Menschen nicht ausreichend ernährt und ohne sauberes Wasser dahinvegetieren und täglich dahinsterben wie die Fliegen, während unsere Ärzte neue Patienten untersuchen und ihnen neue Pillen verschreiben – oder sie ohne zwingenden Grund operieren. Eigennutz ist schließlich nicht verboten – ebenso wenig wie die Bestechung von Ärzten. Das rätselhafte Ansteigen der Krankheiten in Deutschland und das fast ebenso rätselhafte Steigen der Aktien der Pharmakonzerne wird meistens von den Medien nicht thematisiert. Die Journalisten haben auch eine Familie. Und so verrühren sie Meinung und Nachricht zu einem unkenntlichen Brei: Einerseits – anderseits. Selten durchbricht einer das Schweigegebot. Niemand soll erwarten, dass der Umsatz an überwiegend überflüssigen Cholesterin-Hemmern, Blutdrucksenkern und die Anzahl unnötiger Operationen bald zurückgehen wird. Dazu steht zu viel auf dem Spiel für die Karriere und die Lebensqualität der Nutznießer.

Also, nicht aufregen. Auf die Selbstheilung vertrauen. Erst mal die Wassergüsse, Schwitzkuren und Kompressen von Vincenz Prießnitz probieren. Und bei der nächsten Wahl das Richtige wählen. Das senkt den Blutdruck.


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