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05.10.13 / Erfolgsmodell in der Sackgasse / Schwache Konjunktur im Euro-Raum schwächt auch Polen – Trotz Jahren des Wachstums extrem niedrige Löhne

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 40-13 vom 05. Oktober 2013

Erfolgsmodell in der Sackgasse
Schwache Konjunktur im Euro-Raum schwächt auch Polen – Trotz Jahren des Wachstums extrem niedrige Löhne

Bisher galt Polen als eines der wirtschaftlich stabilsten Länder in Europa, ja sogar als Erfolgsmodell. Inzwischen scheint das Land allerdings ungebremst in eine ausgemachte Krise zu schlittern.

Es sind völlig neue Töne, die Polens Außenminister Radoslaw Sikorski nun anschlägt. Noch vor zwei Jahren hatte er gefordert, dass Deutschland in Europa mehr Führung übernehmen soll, nun wird etwas anderes verlangt: Deutschland solle mehr „Solidarität“ zeigen. Berlin müsse zur Rettung der Euro-Zone mehr tun als bisher, so Sikorsiki gegenüber der Wochenzeitung „Die Zeit“. Die EU werde nur dann eine „wahre politische Union“ werden, wenn einige „finanzielle Verpflichtungen“ gemeinsam getragen würden. Unmissverständlich hat Sikorski auch gleich klargemacht, was er sich konkret darunter vorstellt: Euro-Bonds, sprich gemeinsame Schulden, für die vor allem Europas leistungsfähigste Volkswirtschaft haften würde, nämlich Deutschland.

Polens Kehrtwende bei den Euro-Bonds dürfte weniger uneigennützig die Krisenländer der Euro-Zone im Blick gehabt haben, als vielmehr auch ureigenste polnische Interessen verfolgen. In Polen, das bisher als wirtschaftliches Erfolgsmodell schlechthin gefeiert wurde, kippt unübersehbar die Stimmung. Die Zeichen mehren sich, dass die Jahre des Wirtschaftsbooms erst einmal vorbei sind. Spektakulär waren etwa die Massenproteste gegen die Regierung von Donald Tusk, die Ende September in Warschau stattgefunden haben. Über 10000 Demonstranten zogen durch die Straßen, blockierten den Verkehr und skandierten „Ministerpräsident, wir kommen dich holen“. Eine klare Aufforderung an Premier Tusk zum Rücktritt. Eine der Hauptforderungen bei den Protesten lautete: höhere Löhne.

Obwohl die polnische Wirtschaft seit zwei Jahrzehnten ununterbrochen wächst, liegt der Durchschnittslohn umgerechnet bei nur etwa 600 Euro. Trotz des jahrelangen Wirtschaftsbooms verdienen die Polen damit weit weniger als der EU-Durchschnitt. Zwar hat das niedrige Lohnniveau zahlreiche Unternehmen in das Land gelockt, allerdings kommen viele Polen wegen den gestiegenen Lebenshaltungskosten mit den Mini-Löhnen immer mehr in Bedrängnis. Die Folgen lassen sich an einer Statistik ablesen, die von der polnischen Polizei unlängst vorgelegt wurde. In der ersten Hälfte dieses Jahres ist die Zahl der Selbstmordversuche mit 4200 um ein Drittel höher als im Vergleichszeitraum des Vorjahres. Setzt sich die Entwicklung fort, dann droht bis zum Jahresende die Zahl der Suizidversuche auf über 8000 anzusteigen. Welche Dimension das Problem angenommen hat, wurde von der Soziologin Maria Jarosz gegenüber der Zeitung „Rzeczpospolita“ deutlich gemacht: Die Wachstumsrate bei Selbstmordversuchen seit 2009 ist in Polen inzwischen ähnlich hoch wie im Krisenland Griechenland, so Jarosz, die zu dem Thema forscht. Ihr alarmierender Befund: „Die Zahl der Selbstmordversuche ist ein Indikator des Zustandes der Gesellschaft und ihres Zerfalls.“

Kaum auszudenken ist, was passiert, sollte in den kommenden Jahren das Wirtschaftswachstum ausbleiben. Zwar rechnet die Zentralbank in Warschau noch damit, dass Polens Wirtschaft 2014 mit 2,4 Prozent wachsen wird – viel hängt allerdings von der Lage im übrigen Europa ab. Spitzt sich die wirtschaftliche Lage in der Euro-Zone zu, dann wird dies auf Polens Exporte durchschlagen. Der Spielraum für Premier Tusk, die prekäre Lage dauerhaft zu lindern, ist gering. Zudem ist damit zu rechnen, dass eine Erhöhung der Tabak- und Getränkesteuer für neuen Verdruss sorgen wird. Für kommendes Jahr sieht der polnische Staatshaushalt bei umgerechnet nur 65 Milliarden Euro Steuereinnahmen ein Defizit von elf Milliarden vor. Dazu kommt, dass Tusk inzwischen auch politisch angeschlagen ist und seine Macht immer mehr erodiert. Nach dem Weggang einer Reihe von Politikern stützt sich die Koalition aus Tusks Bürgerplattform (PO) und der Bauernpartei im Sejm nur noch auf eine knappe Mehrheit von zwei Stimmen. Kaum verwunderlich, dass die Opposition um Jaroslaw Kaczynski bereits orakelt, Tusk bereite insgeheim einen Pakt mit dem postkommunistischen SLD vor, um seine Macht zu sichern.

Dass den vorgeblich wirtschaftsliberalen Tusk im Zweifel wenig Skrupel plagen, hat er bereits im August gezeigt. Zur Kaschierung der polnischen Staatsverschuldung wurden private Rentenfonds im Zuge einer „Rentenreform“ regelrecht enteignet. Zwangsweise wurden die privaten Rentenversicherer dazu verdonnert, polnische Staatsanleihen dem Staat abzutreten. Der Schritt hat nicht nur das Vertrauen von ausländischen Anlegern untergraben, Kritiker beschwerten sich ebenso, dass Warschaus Rang als wichtigste Börse in Ostmitteleuropa geschwächt worden sei. Scheitern könnte nun sogar der Versuch der Börse Warschau, den Konkurrenten in Wien zu übernehmen. Für Tusk eröffnet die De-facto-Enteignung der Rentenversicherer allerdings neue Spielräume: Die auf dem Papier gesenkte Staatsverschuldung ermöglicht es, noch rechtzeitig vor den Wahlen im Jahr 2015 auf Pump das eine oder andere Wahlgeschenk an die zunehmend unzufriedener werdenden Polen zu verteilen. Norman Hanert


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