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05.10.13 / Kindheit zwischen Förderwahn und Verwöhnung!

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 40-13 vom 05. Oktober 2013

Gastbeitrag
Kindheit zwischen Förderwahn und Verwöhnung!
von Josef Kraus

Zwei „Typen“ von Eltern müssen uns gesamtgesellschaftlich Sorgen machen: Die einen sind diejenigen, die sich zu wenig um ihre Kinder kümmern. Die anderen sind diejenigen, die sich um alles kümmern. Es sei die Einschätzung gewagt, dass beide Gruppen jeweils zehn bis 15 Prozent ausmachen. Im Umkehrschluss heißt das: Die große Mehrheit der Eltern erzieht bodenständig und verantwortungsbewusst.

Gewiss sind die an Erziehung völlig desinteressierten Eltern die gewichtigere Sorgenklientel. In wachsender Stärke macht aber eine Gruppe Sorgen, die das Gegenstück darstellt: Eltern, die entschlossen sind, alles und noch mehr für ihr Kind zu tun. Das sind Eltern, die sich über die Zahl der Vokabeln, über das Gewicht des Schulranzens, über den fehlenden Wasserspender im Klassenzimmer beschweren. Das sind Mütter, die sich nicht vorstellen können, dass ihre Töchter im Französischen eine Fünf eingefahren haben, wo die Töchter am Vorabend der Prüfung zu Hause alle Vokabeln aufsagen konnten. Das ist der Vater, der es nicht akzeptieren will, dass sein verhaltensauffälliger Sohn in der Schule gerügt wurde, und der auf drei Seiten ausführt, dass die Schule doch kreative Menschen und keine Duckmäuser heranziehen solle. Und nicht zuletzt sind es manch übersensible oder auch trickreiche Eltern, die ständig auf der Jagd nach Gutachten sind, in denen ihrem Kind ADS, ADHS, Legasthenie, Dyskalkulie oder unentdeckte Hochbegabung attestiert wird.

Solche Beispiele veranschaulichen das aus den USA kommende Bild von den Helikoptereltern – von Eltern, die ständig wie Beobachtungsdrohnen über den Kindern schweben und sie an der elektronischen Nabelschnur des Mobiltelefons durchs Leben geleiten. Die andere Seite der Helikopter-Erziehung ist ein um sich greifender Förderwahn. Dieser Wahn geht nicht selten einher mit Visionen von einem maßgeschneiderten Premium-Kind. Das kommerzielle Angebot schafft die entsprechende Nachfrage und die Ratgeberindustrie boomt. Dabei ist letztere oft das Problem, als dessen Lösung sie sich ausgibt. Und so prasseln auf Eltern Angebote über Angebote herunter: Little-giants-Kindergärten; „Babytuning“ für die VIBs (Very Important Babies); Portfolios und Potenzialanalysen für Dreijährige. Peter Sloterdijks boshafter Begriff der „Fötagogik“ liegt gar nicht zu weit daneben.

Eine unrühmliche Rolle inmitten dieses Förderwahns spielen manche Vertreter der Hirnforschung. Erkennbar ist deren Selbstüberschätzung allein schon daran, dass die Phraseologie der Hirnforschung metastatisch auch die Schule erfasst: Neurodidaktik, Neuroergonomie, Neurogermanistik, Neurohistorik, Neuropädagogik … Deutschlands Hirnforscher sind zum Teil nicht unschuldig an einer mitunter unseriösen Debatte um „Neuro“. Freilich gibt es unter den Hirnforschern solche und solche: Kategorie eins sind die seriösen und streng wissenschaftlichen. Zu ihnen gehören in Deutschland zum Beispiel Gerhard Roth und Wolf Singer. Diese renommierten Fachleute wissen, dass die Hirnforschung weit davon entfernt ist, die Pädagogik zu revolutionieren.

Zur anderen Kategorie von Hirnforschern gehört etwa ein Gerald Hüther, den viele schlechthin für den „Bildungsguru“ („Die Zeit“ vom 8. September) halten. Hüther trägt den Titel „außerplanmäßiger Professor“ der Universität Göttingen. Wissenschaftlich ausgewiesen ist der Mann kaum, wenn man einmal davon absieht, dass er bis 2006 vor allem anhand von Versuchen mit Ratten die Wirkung des Botenstoffes Serotonin untersuchte. Hinzu kommen Aufsätze, die den Titel „Zitronen pflanzen statt Zitronen ausquetschen“ tragen und in der „Gralswelt“ erscheinen. Bei so manchen Eltern freilich kommt er gut an. Welche Eltern lassen sich nicht gern sagen, dass ihr Kind hochbegabt sei? Hüther hat daraus ein Buch gemacht. Es trägt den Titel „Jedes Kind ist hochbegabt“. Der Einwand, dass keiner mehr hochbegabt ist, wenn alle hochbegabt seien, stört ihn nicht. In einem Zeitungsinterview („Welt“ vom 28. August) besteht er darauf, dass er einen sehr umfassenden Begriff von Hochbegabung habe. Zum Beispiel gebe es ja auch eine Hochbegabung im „Kirschkernspucken“. Eine Nummer seriöser geht es nicht, auch nicht bei Hüthers Vorhaben, einen Masterstudiengang „Potenzialentfaltungscoach“ entwickeln zu wollen.

Die „Neuro“-Heilsbotschaften, mithilfe der Hirnforschung ein Bildungssystem zu ungeahnten Höhen führen zu können, sind jedenfalls Aber- und Wunderglaube zugleich. Die Lernforscherin Elsbeth Stern, eine der renommiertesten Lernforscherinnen im deutschsprachigen Raum, vergleicht die schulpädagogischen Schlussfolgerungen unseriöser Hirnforscher mit dem Plan, mittels einer physiologischen Beschreibung von Hunger die Unterernährung in der Welt

bekämpfen zu wollen. Man kann Kleinkindern jedenfalls noch so viel „neuro“-mäßig programmiertes Vorschullernen vorsetzen, es hat keinen Zweck. Ein normales anregendes Elternhaus reicht. Oder einfacher: „Sperren Sie Ihr Kind nicht in den Schrank, lassen Sie es nicht verhungern und schlagen Sie ihm nicht mit der Bratpfanne auf den Kopf.“ So hat der US-Neurowissenschaftler Steve Petersen die unstrittigen Erkenntnisse der pädagogisch relevanten Neuroforschung zusammengefasst.

So manche Politik ist nicht unschuldig an einer solchen Psychodynamik, indem sie die Bildungsdebatte unter Einflüsterung einer OECD zu einer Abiturvollkas-ko-Propaganda verkommen hat lassen und suggeriert, unterhalb eines Masterabschlusses „geht“ heute nichts mehr. Zugleich verwöhnen die Schulen mit guten Noten und niedrigen Quoten an Sitzenbleibern, in manchen deutschen Ländern gar mit der Abschaffung des Sitzenbleibens und der Noten. Es gibt zum Beispiel immer mehr 1,0-Abiturzeugnisse. Die Hochschulen setzen eine solche Kuschelpolitik fort. Laut Wissenschaftsrat war der Anteil der Hochschulabschlüsse (ohne Staatsexamina) mit den Noten 1 und 2 von 2000 bis 2011 von 67,8 auf 76,7 Prozent gestiegen.

Was sind die Folgen einer solchen Erziehung? Solchermaßen erzogene Kinder können keine Eigeninitiative und Eigenverantwortung entwickeln, weil sie Hilflosigkeit gepaart mit hohen Ansprüchen erlernt haben. Solche Kinder werden nie mündig, weil es immer jemanden gibt, der für sie alles regelt. Solchen Kindern wird es später an Unternehmergeist fehlen.

Was ist dagegenzusetzen? Erziehung braucht bei aller Ernsthaftigkeit auch Leichtigkeit und Humor. Vor allem könnte der Mensch durch seine Fähigkeit zum Humor ein gütiges, zugleich lebensbejahendes Hinsehen auf die Unvollkommenheit der Welt, seiner selbst und seiner Zöglinge leben und erleben. Humor hat zu tun mit Souveränität, Selbstironie und Distanz zu sich selbst. Humor gerade in der Erziehung hat mit Liebe, mit Wohlwollen, mit Wärme, mit Güte, mit Wertschätzung des Zöglings zu tun. Das baut Stress und Ängste ab, ist Ausdruck von Kreativität, erhöht die Frustrationstoleranz, relativiert Probleme, signalisiert Friedfertigkeit und macht beliebt. Manche sagen auch: Humor ist ein sehr gutes Mittel der Kontingenzbewältigung, also des Umgangs mit Unwägbarkeiten. Jedenfalls erreicht man mit Humor in Elternhaus und Schule oft mehr als mit bierernster Erziehungsdebatte oder mit rezeptologischem Förderwahn.

 

Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, hat gerade das Buch „Helikoptereltern. Schluss mit Förderwahn und Verwöhnung“, veröffentlicht.


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