25.04.2024

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12.10.13 / Den Lebensschmerz ertränken / Immer mehr Senioren werden zu Suchtpatienten – Kliniken bieten Entzugsprogramme an

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 41-13 vom 12. Oktober 2013

Den Lebensschmerz ertränken
Immer mehr Senioren werden zu Suchtpatienten – Kliniken bieten Entzugsprogramme an

Es ist ein spontaner Abstecher auf dem Weg in den Urlaub nach Süddeutschland. Ohne Vorankündigung klingelt der gerade in den Ruhestand gegangene Angestellte mit seiner Frau bei seiner 89-jährigen Cousine Elfriede, die dreieinhalb Stunden Autofahrt von seinem Zuhause entfernt wohnt. Doch statt einer erfreuten Verwandten öffnete eine torkelnde und nach Alkohol riechende Alte dem Ehepaar die Tür. „Was macht ihr denn hier“, lallt sie ihnen entgegen. Nach einer langen peinlichen Schweigeminute stammelt das Ehepaar etwas von Urlaub und Überraschungsbesuch und möchte am liebsten sofort wieder gehen. Nur ungern bittet die Cousine ihre Verwandten in ihre Wohnung, wo auf dem Tisch eine Flasche Hochprozentiges steht.

Betrunkene Senioren sind für viele Mitarbeiter in der Pflege inzwischen keine Seltenheit mehr. Die Helfer des Hamburger Projektes „Sucht im Alter“ stoßen immer wieder auf Verwunderung, wenn sie über ihr Anliegen öffentlich aufklären wollen. Mit Sucht verbindet die Gesellschaft überwiegend nur junge Leute. Man denkt dabei zuerst an Drogen, dann Alkohol, aber auch hier sind die Süchtigen gefühlt nie älter als Ende 50. Dabei werden zum einen junge Süchtige auch irgendwann einmal alte Süchtige, da viele ihr Problem nicht in den Griff bekommen. Zum anderen werden ehemalige Süchtige im Alter manchmal wieder rückfällig, wenn sie gebrechlich werden und einsam sind.

Letzteres trifft auch auf die seit 20 Jahren verwitwete Elfriede zu. Die in Königsberg geborene Ostpreußin hat schon in jungen Jahren mit ihrem Mann in Gesellschaft gern getrunken. Früher war es vor allem ein Genusstrinken. Doch mit der Einsamkeit und der zunehmenden Gebrechlichkeit wurde aus dem intensiven Genuss eine Sucht. Immer öfter brauchte sie den Stimmungsaufheller Alkohol, der ihr half, den Lebensschmerz zu vergessen.

Bis zu 2,5 Millionen Rentner in Deutschland gelten als alkohol- oder tablettensüchtig, schätzt die Bundesregierung. Neben Alkohol ist die Abhängigkeit von sogenannten Benzodiazepinen das größte Problem. Vor allem viele ältere Menschen leiden unter Einschlafstörungen und Angstzuständen. Ärzte verschreiben dann besagte Medikamente, doch schnell wird daraus eine Sucht. Irgendwann geht es nicht mehr ohne, doch da die Medikamente Nebenwirkungen haben, schaden sich die Betroffenen. Denn die Medikamente machen auch am Tage schläfrig, sie beinträchtigen die Konzentration, bewirken ein verzögertes Reaktionsvermögen und sorgen für Schwindel, was die Sturzgefahr erhöht, so Peter Hans Hauptmann, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie der suchtmedizinischen und geriatrischen Grundversorgung am Heinrich Sengelmann Krankenhaus in Hamburg.

„Sucht kennt keine Altersgrenzen, sie kann jeden treffen“, warnt der Mediziner Hauptmann. Falsche Scham sorge jedoch vor allem bei älteren Süchtigen dafür, dass sie sich dem Problem nicht stellen, dabei könnte ein medizinisch betreuter Entzug Wunder wirken, schließlich erhöhe sich danach die Gedächtnisleistung, die körperliche Leistungsfähigkeit, die Lebensqualität und auch die Lebensfreude.

Das Hamburger Projekt „Sucht im Alter“ schult gezielt Pflegepersonal, damit es bereits die ersten Anzeichen einer Sucht erkennt und reagieren kann. Eigentlich müssten auch viele Angehörige für das Thema sensibilisiert werden, doch in der Öffentlichkeit ist das Thema wenig verbreitet. Dabei steigt die Zahl der Senioren in der Gesellschaft und somit auch die der alten Süchtigen. Hinzu kommt, dass die neuen Alten in ihren jungen Jahren häufiger schon mit Rauschmitteln experimentiert haben. Und so könnte mancher alt-68er Student, plötzlich durch den Ruhestand in die Tatenlosigkeit versetzt, seine Rausch-Experimente aus früheren Tagen wieder mit neuem, verderblichen Leben füllen. Rebecca Bellano


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