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12.10.13 / Für die historische Wahrheit unverzichtbar / Ehemaliger Richter zeigt das Schicksal deutscher Zivilisten auf, die am Ende des Zweiten Weltkrieges ermordet wurden

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 41-13 vom 12. Oktober 2013

Für die historische Wahrheit unverzichtbar
Ehemaliger Richter zeigt das Schicksal deutscher Zivilisten auf, die am Ende des Zweiten Weltkrieges ermordet wurden

Es gilt als politisch unkorrekt, über die Kriegsverbrechen, die am Ende des Zweiten Weltkrieges an Deutschen begangen wurden, zu sprechen oder zu schreiben. Täter sind keine Opfer, lautet das Argument, das man zu hören bekommt. Aber es waren nicht die Deutschen, sondern die deutschen Nazis, die den Krieg angezettelt und mit unvorstellbarer Grausamkeit geführt haben. Eine Grausamkeit, die sich dann am wenigsten gegen die Nazis, die sich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen wussten, sondern gegen die deutsche Bevölkerung richtete. Allmählich beginnt sich die Erkenntnis durchzusetzen, dass der Zweite Weltkrieg erst wirklich beendet und der Weg für eine dauerhafte Versöhnung frei ist, wenn die historischen Tatsachen als solche benannt werden dürfen. So haben sich die Engländer bei den Dresdenern für die militärisch unnütze Bombardierung ihrer Stadt mit einem goldenen Kreuz auf der wiedererstandenen Frauenkirche entschuldigt.

Andere Kriegsverbrechen sind fast unbekannt geblieben. Einen kleinen Teil davon hat Theodor Seidel recherchiert. Seidel wurde einer größeren Öffentlichkeit als Richter im ersten Mauerschützenprozess gegen die Grenzsoldaten und Offiziere bekannt, die für die Tötung von Chris Gueffroy verantwortlich sind. Das von Seidel verhängte Urteil wurde später revidiert mit der Begründung, man könne die Befehlsempfänger nicht bestrafen, so lange die Befehlsgeber nicht belangt worden seien.

Seidel, gebürtiger Sachse und DDR-Flüchtling, hat nach der Vereinigung angefangen, über die an Deutschen verübten Kriegsverbrechen in Sachsen zu forschen. Der Grund dafür war ein persönlicher: Sein Vater, der in den letzten Kriegswochen zum Volkssturm einberufen worden war, geriet in sowjetische Gefangenschaft und wurde in Niederkaina gemeinsam mit andern Gefangenen per Genick-schuss hingerichtet.

Es geht dem Autor nicht darum, die Geschichte umzuschreiben. Er will „in einem mühsamen Erkenntnisprozess unter mehr als bis dahin einbezogenen Gewissheiten ein souveränes, die problematischen Seiten nicht ausklammerndes Bild zurückliegenden Geschehens entwerfen und damit den Grund gewinnen, der den Weg in die Zukunft fundamentiert“.

Die Methode, die Seidel bei seiner Forschung anwandte, ist verblüffend einfach: Er hat die Begräbnisbücher der Evangelischen Gemeinden im von ihm untersuchten Kampfgebiet eingesehen. Danach hat er sich bemüht, Angehörige der verzeichneten Opfer zu finden. Allerdings hatte das Landeskirchenamt Bedenken und wollte Seidel den Einblick verwehren. Die Pfarrer teilten die Meinung ihrer Leitung aber nicht, die Angehörigen auch nicht und so kam eine detaillierte Recherche zustande.

Es ist eine qualvolle Lektüre, was an Vorkommnissen in Dörfern und Kleinstädten aufgelistet wurde. Es traf nicht nur Männer oder Jugendliche, die mit Waffen aufgegriffen wurden, sondern Kinder, Frauen, Alte. Sie wurden verbrannt, erschlagen, erschossen, erstochen, erhängt. Kein einziger Kriegsverbrecher darunter. Die Täter waren in diesem Fall sowjetische oder polnische Einheiten. Beim Lesen habe ich an das Buch: „Iwans Krieg“ von Catherine Merridale denken müssen, das einzig mir bekannte Werk, in dem der Krieg aus der Sicht der einfachen Soldaten geschildert wird, die von Stalins Generalität verheizt wurden. Vom Tag des Gestellungsbefehls an hatte der sowjetische Rekrut noch eine durchschnittliche Lebenserwartung von drei Wochen.

In der in diesem Jahr nun dritten erweiterten Ausgabe des Buchs ist das letzte Kapitel zum immer noch stark umstrittenen Thema der alliierten Tieffliegerangriffe auf Zivil-personen angefügt. Seidel weist auch hier an Hand von Zeugenaussagen und den Kirchenbüchern Sachsens für den Zeitraum vom 1. bis 25. April 1945 nach, dass es mindestens 24 gezielte Angriffe gegeben habe. Unter den knapp 100 recherchierten Toten waren neben Frauen und Kindern auch fünf französische Kriegsgefangene.

Warum sind solche Bücher wie das von Seidel wichtig? Er schreibt es im Vorwort zur zweiten Auflage selbst: „Eine Zeitzeugin meinte, ihre Erlebnisse brauchten ja nicht veröffentlicht zu werden, es beruhige sie schon, wenn sie festgehalten würden, damit derjenige, der sich später einmal dafür interessiere, sich informieren könne.“

Für die historische Wahrheit ist der Beitrag von Theodor Seidel unverzichtbar. Vera Lengsfeld

Theodor Seidel: „Kriegsverbrechen in Sachsen“, Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2013, 3. erweiterte Auflage, broschiert, 272 Seiten, 19 Euro


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