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02.11.13 / Europa war sein Vorbild / Vor 75 Jahren starb der Begründer und erste Präsident der Republik Türkei, Mustafa Kemal Atatürk

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 44-13 vom 02. November 2013

Europa war sein Vorbild
Vor 75 Jahren starb der Begründer und erste Präsident der Republik Türkei, Mustafa Kemal Atatürk

Volksführern werden maßlose Beinamen verliehen. Selten aber sind sie so zutreffend wie beim osmanischen Kriegshelden und türkischen Staatsgründer Mustafa Kemal. Als die kemalistische Kulturrevolution 1934 für alle Türken einen Nachnamen verbindlich werden ließ, wurde er zu „Atatürk“, das ist der „Vater der Türken“. Der Name ist handelsrechtlich geschützt und darf auf keinem anderen Zusammenhang verwendet werden. Tatsächlich hat dieser Mann „die Türken“ in den politischen Kurs Europas gebracht. Auf der Folie des zerfallenden osmanischen Reichs führte er die Fiktion dieser neuen Nation 1932 sogar in den Völkerbund. Diese Entwick­lung ist nicht nur von Widersprüchen gezeichnet, sie ist eigentlich ein Widerspruch in sich, indem Atatürk gleichermaßen Vernichter wie auch Erbe des osmanischen Sultanats war.

Da ist es kein Wunder, dass es heutigen Beobachtern oft schwer fällt, die Merkmale der islamischen Renaissance in der jüngeren Türkei von den Kennzeichen des überlieferten kemalistischen Personenkultes zu unterscheiden. Einerseits nutzte Kemal die vorhandene Einbindung des multiethnischen osmanischen Staatsvolks in den Islam. Andererseits etablierte er einen radikalen Laizismus. Er versuchte den heiligen arabischen Koran durch Übertragung in die neutürkische Sprache zu entzaubern und führte die lateinische Schrift ein. Aber den eigenen fast heiligmäßigen Namen bewahrt noch immer das Gesetz zum Schutz seines Ansehens vor jeder Profanisierung. Diese pragmatische Inkonsequenz setzte sich postum fort. Der Sarkophag in dem ungeheuren Mausoleum auf einem antiken phrygischen Grabhügel in Ankara ist nach Mekka ausgerichtet. Mustafa Kemal Atatürk, der bereits mit 57 Jahren an den Folgen einer Leberzirrhose starb, wurde erst 1953 dorthin überführt.

Geboren wurde er 1881 in Saloniki in der makedonischen Provinz des Reiches. Den ersten Beinamen Kemal (Vollendung, Reife) erhält er als Knabe in der Militärschule. Unbotmäßigkeit, Alkoholismus und der Verkehr mit Prostituierten tragen ihm Verweise ein. Dennoch absolviert er die Ausbildung mit guten Ergebnissen und wird zur Aufstandsbekämpfung in Syrien und zum Partisanenkampf gegen die Italiener in Libyen eingesetzt. Die jungtürkische Reform-elite weist den politischen Aktivisten zunächst ab. Später entwickelt sich eine Rivalität zum Kriegsminister Enver Pascha, mehrfach nimmt ihn dabei der deutsche Befehlshaber Liman von Sanders in Schutz.

1915 schlägt die Geburtsstunde des „Retters von Gallipoli“. Bei der versuchten Eroberung der Dardanellen erleben die Alliierten eine Niederlage. Drei Kriegsschiffe werden versenkt, drei weitere schwer beschädigt. Seine eigenmächtige Verteidigung der Ariburnu-Anhöhe gegen starke neuseeländische und australische Einheiten vereitelt deren Landung und führt zum Rücktritt von Marineminister Winston Churchill. 1917 begleitet Kemal den osmanischen Kronprinzen ins deutsche Hauptquartier nach Kreuznach. Als der ihn vorstellen will, wird er sogleich von Wilhelm II. unterbrochen, der sofort die Einheit zu nennen weiß, die Kemal bei Gallipoli befehligte.

Die griechische Invasion nach Weltkriegsende wird dann paradoxerweise zum Geburtshelfer der modernen Türkei. Mit der normativen Kraft des Faktischen führen Kemals Erfolge in der asymmetrische Kriegsführung gegen die Besatzer Anatoliens zur Anerkennung des Parlaments in Ankara durch die Istanbuler Regierung. Als einziges unterlegenes Land gelingt der Türkei die Revidierung eines Siegerdiktats. Der hohe Preis dafür besteht in einem gewaltigen Bevölkerungsaustausch von Griechen und Türken. 1923 schreibt der Vertrag von Lausanne die Grenzen der heutigen Türkei fest.

Nach dem erfolgreichen Unabhängigkeitskrieg setzte die kemalistische Kulturrevolution ein. Das Türkentum soll vorerst nicht ethnisch, sondern über die Sprache und das Zugehörigkeitsgefühl begründet werden. Auf diesem Wege sollen auch die Kurden und andere Volksgruppen eingebunden werden. 1922 wird das Sultanat beendet und die Herrscherfamilie des Landes verwiesen. 1924 erlischt das Kalifat. Kemal erwog zugleich, die christlichen Patriarchate und das Oberrabbinat abzuschaffen. Er übernimmt das italienische Strafrecht und die deutsche Verkehrsordnung. Die wechselnde Kopfbedeckung des Staatsgründers, vom Fez über die Lammfellmütze zum Panamahut, wird zum äußeren Merkmal des Wandels. 1914 hatte er noch auf einem Kostümball in Sofia als Janitschar das Ehrgefühl der Bulgaren provoziert. 20 Jahre später erlässt er ein „Gesetz über das Huttragen“. Im Zusammenhang mit der „Hutrevolution“ werden sogar Todesurteile vollstreckt und wegen des Mangels an vorschriftsmäßigen Kopfbe- deckungen gehen Herren mit Damenhüten auf die Straße.

Eine abwägende Einschätzung seines Wirkens und seiner Persönlichkeit wird erschwert durch die immer noch staatstragende Bedeutung von Atatürks Vermächtnis. Sebastian Hennig


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