19.04.2024

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09.11.13 / Auf ewig eingebrannt / Rentner über Fluchttrauma

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 45-13 vom 09. November 2013

Auf ewig eingebrannt
Rentner über Fluchttrauma

In der kleinen Bauernschaft Scheeren am Ruß-Strom zum Kurischen Haff wurde Harry Schmeil im März 1940 geboren. Nur die wenigen Jahre seiner frühen Kindheit verlebte Schmeil in seiner Heimat, dem Memelland, das er seit der Flucht 1944 nicht wiedergesehen hat. Schmeil war Stadtplaner in Rotenburg/Wümme, ist chronisch krank und leidet seit zwölf Jahren an einem schweren posttraumatischen Belastungssyndrom. Eindeutig handelt es sich um eine Spätfolge von schockierenden Eindrücken und Angstzuständen im Kindesalter.

Schmeils Kindheit ist durch die Schrecken der Flucht aus Ostpreußen und einem Selbstbehauptungskampf als Flüchtlingskind geprägt. Ermutigt durch seine Frau hat er seine Lebenserinnerungen aufgeschrieben. Mit Hilfe zweier Lektorinnen wurde das Manuskript bis zur Druckreife überarbeitet. Seinem Buch gab er den Titel: „Angst vor der Nacht. Ein Jungchen aus Ostpreußen. Die Flucht dauerte drei Jahre!“ Das Buch überrascht durch eine Detailfülle, was daran liegt, dass der Autor früh das Gespräch mit Eltern, Verwandten und Freunden gesucht hat, um seine eigenen bruchstückhaften Erinnerungen mit denjenigen der anderen abzugleichen.

Von seinen Eltern erfuhr er Näheres über das Leben auf dem Erbhof seines Vaters. In den letzten Kriegsjahren war sein Vater Frontsoldat. Niemand außer dem Pflichtjahrmädchen Hilde nahm sich Zeit für das Einzelkind Harry. In der Erntezeit 1944 hörte man in der Ferne zum ersten Mal ein Donnergrollen und jeder wusste: Die Front rückt näher. Nach einem vom deutschen Militär vereitelten ersten Fluchtversuch verließen der vierjährige Harry, seine Mutter, Hilde und der polnische Arbeiter Kasimir wenig später Haus und Hof. Der kleine Konvoi reihte sich in den endlosen Flüchtlingstreck ein. „Für uns begann die große Flucht mit all ihren Nöten, Ängsten, Morden, Totschlägen, Vergewaltigungen, Hunger und Durst.“ Von Hilde, die nach Kanada auswanderte und mit der er bis heute befreundet ist, ließ sich Schmeil später von dem ungeheuerlichen Drama des Luftangriffs auf Königsberg mit Phosphorbomben erzählen. Aus 50 Kilometern Entfernung erblickten die Flüchtlinge von einem Hügel aus „eine Feuersbrunst, die sich wie flüssiges Magma aus einem Vulkan aus Königsberg heraus wälzte wie zu einem gigantischen Sonnenuntergang“.

Der Autor erzählt lebhaft, manchmal aufgeregt, stellt Querverweise her und wertet das Geschehen. „Fest verschnürt bis heute lagern diese Bilder in dem eisigen Keller meines Unterbewusstseins und bemächtigen sich meiner Nacht für Nacht.“ Bei Kriegs-ende waren sie in Stettin. Kasimir hatte sie verlassen, nach seinen eigenen Worten, um sich vor den Russen zu retten. Von den Abenteuern einer Gruppe von

hungrigen Kindern, die in den Ruinen Stettins herumstrolchten, handelt das Kapitel „Trümmerforscher und Geisterjäger“. Schmeil konstatiert: „Wenn ich heute einen Begriff für Zeit fände, würde ich glatt behaupten: Ich war schon nach all dem, was ich damals gesehen und erlebt habe, mindestens 100 Jahre alt.“ Durch den Suchdienst des Roten Kreuzes erhielt seine Mutter 1946 die Nachricht, dass sich ihr Mann in Busdorf in Schleswig-Holstein aufhielt. Dorthin zogen sie, und dort wurde Schmeil eingeschult. Als „Flüchtlings-Lorbass“ musste er täglich mit Anfeindungen seiner Mitschüler fertig werden. Anfang der 50er Jahre fand sein Vater Arbeit als Bergmann im Ruhrgebiet. „Endlich fort aus diesem verfluchten Busdorf.“ Dagmar Jestrzemski

Harry Schmeil: „Angst vor der Nacht. Ein Jungchen aus Ostpreußen. Die Flucht dauerte drei Jahre!“, Bod, Norderstedt 2013, geb., 165 Seiten, 18,90 Euro


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