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16.11.13 / »Ein Mann mächtiger und gewaltiger Leidenschaften« / Johann Christian Reil gilt als Begründer der modernen »Psychiatrie«, ein Begriff, den er erstmals verwendete

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 46-13 vom 16. November 2013

»Ein Mann mächtiger und gewaltiger Leidenschaften«
Johann Christian Reil gilt als Begründer der modernen »Psychiatrie«, ein Begriff, den er erstmals verwendete

Ich schließe meinen Bericht mit dem gräßlichsten Schauspiel, das mir kalt durch die Glieder fuhr und meine ganze Fassung lähmte. Nämlich auf dem offenen Hof der Bürgerschule fand ich einen Berg, der aus Kehricht und Leichen meiner Landsleute bestand, die nackend lagen und von Ratten und Hunden angefressen wurden …“ Kaum weniger erschreckend sind die vorangegangenen Schilderungen dieses Schreibens über die Zustände in den Lazaretten nach der Völkerschlacht bei Leipzig vor 200 Jahren. Bei dem Verfasser handelt es sich um den Medizinprofessor Johann Christian Reil, der seit 1806 die Oberaufsicht über das preußische Lazarettwesen hatte und sich intensiv um dessen Verbesserung bemühte. Ernst Moritz Arndt charakterisierte ihn als „einen Mann mächtiger und gewaltiger Leidenschaften“. Reil bezahlte seinen Einsatz schließlich mit dem Leben. Wohl bei der Versorgung der Verwundeten und Kranken infizierte er sich mit Typhus. Er starb am 22. November 1813 in Halle an der Saale. Dort liegt auch sein Grab. Aber seine Wiege stand dort nicht und in den letzten Jahren seines Lebens bekleidete er ein Ordinariat an der Berliner Universität. Dennoch ist sein Wirken auf das Engste mit der Stadt an der Saale verbunden.

Als Pfarrerssohn war Reil 1759 in Ostfriesland zur Welt gekommen. An das Studium in Göttingen und Halle schloss sich der obligatorische Besuch des „Collegio medico-chirurgicum“ in Berlin an. Während dieser Zeit wohnte er bei dem im Jüdischen Krankenhaus tätigen Arzt Markus Herz und dessen Ehefrau Henriette. Durch ihn wurde Reil mit der Philosophie Immanuel Kants vertraut gemacht. Nach seiner Ausbildung ging er wieder nach Nordwestdeutschland, war als praktischer Arzt tätig und verfasste den Ratgeber „Diätischer Hausarzt für meine Landsleute“.

1787 kehrte er an seinen Studienort Halle zurück, zunächst als außerordentlicher Professor. Doch schon kurze Zeit später folgte er seinem überraschend verstorbenen Mentor Johann Friedrich Gottlieb Goldhagen auf dessen Lehrstuhl nach und übernahm das Amt des Stadtphysikus. In Halle, wo er insgesamt 23 Jahre tätig war, konnte er die medizinische Ausbildung erweitern, was 1808 in der Errichtung eines akademischen Lehr- und Behandlungskrankenhauses gipfelte. Er setzte sich dafür ein, Medizin und Chirurgie nicht mehr zu trennen.

Vor allem aber fallen in diese Zeit seine wegweisenden wissenschaftlichen Arbeiten. Zwar wandte er sich später dem sogenannten Vitalismus zu, den er zunächst zurückgewiesen hatte, und gab sich als Protagonist der bereits zu dieser Zeit umstrittenen „romantischen Medizin“. Grundlage war die vermutete Einheit von Natur und Geist, es galt, den Menschen in ein universelles System einzuordnen. Einfluss hatte hier die Naturphilosophie Friedrich Wilhelm Joseph Schellings, für Reil war das Ganze schließlich auch mit dem nationalen Erneuerungsgedanken verknüpft – also mit politischen Überlegungen, die sehr weit von der Heilkunde als dem eigentlichen Ausgangspunkt entfernt waren.

Zahlreich sind die bleibenden Leistungen, die Reil in der medizinischen Forschung vollbrachte. Er arbeitete über das Nervensystem und auf dem Gebiet der Hirnanatomie. Davon zeugt beispielsweise die „Reilsche Insel“, eine Schläfenlappenregion, die er erstmals beschrieb. Sein fünfbändiges Hauptwerk

„Ueber die Erkenntniß und Cur der Fieber“ bot ein neues Verständnis des Fiebers, das er nicht mehr als Krankheit an sich sah, sondern als eine Reaktion, die in größere organische Zusammenhänge einzuordnen ist. In dieser Arbeit sowie in weiteren Schriften und von ihm herausgegebenen Periodika setzte er sich zudem maßgeblich mit Geisteskrankheiten auseinander. Er gilt als Begründer der modernen Psychiatrie, forderte die Errichtung entsprechender Lehrstühle und entwickelte Ideen für Therapien. Damit war er seiner Zeit weit voraus, zum großen Teil beschränkte man sich damals auf das bloße „Bewahren“ der Kranken. Reil war auch derjenige, der den Begriff „Psychiatrie“ erstmals 1808 in einem Aufsatz gebrauchte und ihn so in die Forschung einführte.

Weitere Felder seines Wirkens waren die Augenheilkunde und die öffentliche Gesundheitsfürsorge, vor allem aber das Badewesen im Sinne einer Kureinrichtung. Entsprechende Initiativen trieb er in Halle voran, ebenso förderte er die Einrichtung des Solbades Salzelmen.

In Halle erfuhr Reil allgemeine Anerkennung. Unter anderem erhielt er dort den Titel eines Oberbergrats, verbunden mit einem hohen Jahresgehalt. Mehrere Rufe an renommierte Universitäten lehnte er ab. 1810 ließ sich Reil allerdings schließlich doch zum Wechsel in die preußische Hauptstadt bewegen. Wilhelm von Humboldt hatte sich persönlich um ihn bemüht. Er stand der „Wissenschaftlichen Deputation für das Medizinalwesen“ im Ministerium des Inneren vor und wurde 1811 erster gewählter Dekan der medizinischen Fakultät der neuen Universität. Allerdings waren die Berliner Jahre von Spannungen geprägt. Mit Christoph Wilhelm Hufeland, der als Berliner Gründungsdekan gewirkt hatte, verband ihn alles andere als eine Freundschaft. Hufeland vermerkte einmal missgünstig mit Anspielung auf den philosophisch-literarischen Bildungshorizont, den Reil in seinen medizinischen Vorlesungen stets mitvermittelte, dass aus dessen Lehre „höher gebildete Sonnenkinder“ hervorgingen, während bei ihm selbst nur „Erdenkinder“ herauskämen.

Nach Halle kehrte Reil immer wieder zurück. Für seine Bädereinrichtung war auch ein Theater vorgesehen, das aber erst 1814 eröffnet wurde. Goethe schrieb dazu das Vorspiel „Was wir bringen“ zur Ehrung des im Vorjahr verstorbenen Mediziners. Wegen der Anhängerschaft an die „romantische Medizin“ und durch das Betreiben Hufelands war eine positive Würdigung der Leistungen Reils nach dessen Tod zunächst erschwert. Heute wird in der Stadt Halle durch entsprechende Benennungen an mehreren Orten an sein Wirken erinnert. Auf seinem ehemaligen Anwesen befindet sich nicht nur eine imposante Grabstätte. 1901 wurde dort, im Park Reils, der Bergzoo errichtet. Erik Lommatzsch


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