16.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
23.11.13 / Der Wähler, das ungeliebte Stimmvieh

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 47-13 vom 23. November 2013

Moment mal!
Der Wähler, das ungeliebte Stimmvieh
von Klaus Rainer Röhl

Das Saarland ist eines der 16 deutschen Bundesländer. Es kommt eher selten in der überregionalen Berichterstattung der Medien vor. Außer damals, als Oscar Lafontaine, von 1985 bis 1998 saarländischer Ministerpräsident, danach SPD-Vorsitzender, Kanzlerkandidat und Finanzminister unter Gerhard Schröder, nach seinem überraschenden Amtsverzicht 1999 seinen kleinen Sohn auf dem Balkon auf den Schultern trug und erklärte, er wolle fortan nichts mehr mit Politik zu tun haben. Ein Versprechen, das er leider zum Schaden Deutschlands und des Saarlands nicht einhielt. Doch niemand zweifelt daran, dass das Saarland zu Deutschland gehört.

Das war jedoch nicht immer so. Das Saargebiet, durch massive Kohlevorkommen begünstigt, entwickelte sich im 19. Jahrhundert zu einem blühenden Industrie-Standort und erweckte schnell die Begehrlichkeit seines Nachbarlands Frankreich. Nachdem Deutschland den Ersten Weltkrieg verloren hatte, sah Frankreich die Stunde gekommen, sich dieses Filetstück einzuverleiben. Das war 1918 noch nicht so einfach wie 1945, wo ein Drittel Deutschlands mit Billigung der Alliierten einfach als Kriegsbeute einkassiert wurde und heute zu Polen, Tschechien oder Russland gehört. Doch die Franzosen versuchten es schon damals und schufen erst einmal vollendete Tatsachen. Sie marschierten ins Saargebiet ein und versuchten, das Industriegebiet ihrem Land einzuverleiben.

Nach der Niederlage des Deutschen Reiches wurde das Saarland mit seinen rund 800000 Einwohnern durch die Bestimmungen des Versailler Vertrags von 1919 Mandatsgebiet des Völkerbundes. Frankreich erhielt die Leitung der zuständigen Völkerbundkommission und die Rechte an den Saar-Zechen zur Sicherung der deutschen Reparationen. Dieses Mandat endete 1935. Wie im Versailler Vertrag vorgesehen, fand am 13. Januar 1935 unter Aufsicht des Völkerbunds eine Volksabstimmung statt. Zu entscheiden hatte die Bevölkerung über die Zugehörigkeit des Gebietes zum Deutschen Reich, zu Frankreich oder die Beibehaltung des Status quo.

Vor allem von deutscher Seite löste die Abstimmung eine massive Propagandakampagne aus. „Deutsch ist die Saar!“, gesungen nach der Melodie des Bergmanns-Liedes „Glück auf, Glück auf, der Steiger kommt“ hörte ich als Siebenjähriger wohl zehnmal am Tag im Radio: „Deutsch ist die Saar, deutsch immerdar!“ Die Saarländer fanden das offenbar auch. Von den rund 540000 Stimmberechtigten votierten 90,5 Prozent für Deutschland, für den Anschluss an Frankreich nur 0,4 Prozent. Am 1. März 1935 erfolgte der Anschluss als Gau Saarland an das Reich.

Nach dem Zweiten Weltkrieg begann der Kampf um das Saarland aufs Neue. Frankreich wollte, nachdem das Saargebiet nach Ablösung der US-amerikanischen Besatzung am 10. Juli 1945 zur französischen Besatzungszone gehörte, das begehrte Industrierevier stärker an sich binden, wenn möglich für immer vereinnahmen. Das 1954 zwischen Pierre Mendès-France und Konrad Adenauer ausgehandelte „Saarstatut“ sah dementsprechend bis zum Abschluss eines Friedensvertrages mit Deutschland die Unterstellung des Saarlandes unter einen Kommissar der Westeuropäischen Union vor.

In der deutschen Innenpolitik wurde Adenauer wegen des Saarstatuts scharf angegriffen. Vor allem die SPD sah darin eine De-facto-Abtretung des Saarlands an Frankreich. Vor dem endgültigen Inkrafttreten war allerdings eine Volksabstimmung vorgesehen, um die bald ein heftiger Abstimmungswahlkampf ausbrach. Es ergab sich die paradoxe Situation, dass die Saar-CDU zur Ablehnung des Statuts aufrief, während CDU-Bundeskanzler Adenauer eine Zustimmung propagierte. In der Volksabstimmung am 23. Oktober 1955 votierten 67,7 Prozent der abstimmenden saarländischen Bürger gegen das Statut. Am 14. Dezember 1956 erklärte der saarländische Landtag den förmlichen Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes.

Zwei Volksabstimmungen. Was lernen wir daraus, wenn wir heute hören, dass CSU und SPD sich bei den Koalitionsverhandlungen über das Thema Volksabstimmung im Bund annähern und die CDU unter Angela Merkel solche Instrumente der Mitbestimmung ablehnt? Was steckt dahinter?

Volksabstimmungen, dieses älteste Instrument der Demokratie, sind in der Schweiz, seit dem Rütlischwur die Heimat aller Freien und Hoffnung der politisch Verfolgten in Europa, Bestandteil der Verfassung. Ihr Ergebnis ist verbindlich. Ergebnis der letzten Volksabstimmung vor ein paar Monaten war eine entschiedene Verschärfung des Einwanderungsrechts und hatte eine entsprechend schlechte Presse bei unseren Leitmedien. Wie gerne hätten wir da mit abgestimmt!

Volksabstimmungen, also Abstimmungen aller Bürger über Fragen, die über ihr künftiges Schicksal entscheiden, sind in Deutschland offenbar ein heißes Eisen. Da könnte ja jeder kommen, jeder „Populist“. Die Regierenden in Deutschland misstrauen seit alters her ihren Bürgern. Also dem Volk. Das Misstrauen sitzt tief. Und die Intellektuellen misstrauen dem Volk ebenfalls oder sie verachten es. Wie Kurt Tucholsky, der nach der Wahl Paul von Hindenburgs, des geschlagenen, aber populären Feldherrn des Ersten Weltkriegs, höhnte: „Masuren-Pauls Wahl / ganz im Vertrauen / beruhte nur auf der Gleichberechtigung der Frauen.“ Wenn das Alice Schwarzer wüsste! Änderte sich dann ihr Tucholsky-Bild?

Die Intellektuellen nehmen es im Grunde übel, dass ihre Putzfrau genauso gehört wird wie sie. Was kann passieren, wenn in Deutschland das Instrument Volksabstimmung so ausgebaut würde wie in der Schweiz? Der Ausgang einer Volksabstimmung lässt sich nicht voraussagen. Und es könnte durchaus vorkommen, dass das Volk sich ganz anders entscheidet, als die Regierenden und die guten Deutschen das erwarten.

Es gibt vieles, was uns Deutschen auf den Nägeln brennt. Hier eine kleine Auswahl: Wollen wir unseren Bundespräsidenten vom Volk wählen lassen? Sollen wir weitere Milliarden ohne berechtigte Hoffnung auf Rückerstattung in den europäischen Schuldentopf einzahlen? Möchten wir, dass die Türkei EU-Mitglied wird? Wünschen wir eine Verschärfung des Strafrechts gegen Intensivtäter? Wollen wir den Euro behalten oder lieber unsere D-Mark zurück? Wollen wir uns weiterhin von den nicht demokratisch legitimierten EU-Kommissaren allerlei Unsinniges aufs Auge drücken lassen wie die teuren und gefährlichen Quecksilber-Energiespar-Leuchten? Wollen wir wegen der rasant steigenden Preise und der Gefährdung unseres Industriestandorts das Ende der Energiewende? Sind wir mit dem zunehmenden Verlust unserer nationalen Selbstständigkeit zugunsten eines europäischen Bundesstaats einverstanden? Wollen wir weiterhin unbegrenzt Armutsflüchtlinge bei uns aufnehmen, die keinen Anspruch auf Asyl haben? Sind wir weiterhin bereit, Jahr für Jahr die Hauptlast an den Kosten der EU zu tragen, ganz gleich, wie sich unsere Wirtschaft entwickelt? Diese Liste nützlicher Themen für eine Volksabstimmung ließe sich mühelos fortsetzen.  Also, Volksabstimmung, ja bitte!


Mister Interruptus
Meister kühner Kapriolen und Abschweifungen: Laurence Sterne, Autor des »Tristram Shandy«, wurde vor 300 Jahren geboren

Wenn man von der Epoche der „Empfindsamkeit“ im 18. Jahrhundert spricht, hat das auch etwas mit einer Frankreichreise von Laurence Sterne zu tun. Bekannt wurde der am 24. No­vember 1713 geborene Autor aber vor allem mit seinem „Tristram Shandy“, das der wohl spleenigste Roman ist, der die Bezeichnung „Weltliteratur“ verdient.

Einzigartig wie ein Monolith in der Literatur-Landschaft steht „Tristram Shandy“. So etwas gibt es kein zweites Mal: Eine fiktive Autobiografie, in der die Chronologie vollkommen auf den Kopf gestellt ist. Wo der Held schon auftaucht, bevor er überhaupt geboren ist, wo sich das Vorwort mitten im Buch befindet, wo schwarze und marmorierte Seiten den Lesefluss unterbrechen und wo Kapitel ausgelassen werden, um später nacherzählt zu werden.

Das alles ist Wahnsinn, aber mit Methode und hat so man manchen Leser in den „Shandyismus“ getrieben: dem untrüglichen Ge­fühl, zwar den Faden, aber trotzdem nicht die Hoffnung verloren zu haben. Arno Schmidt, selbst ein Jubilar Anfang nächsten Jahres, bescheinigte vor 50 Jahren anlässlich einer im Winkler-Verlag erschienenen Übersetzung: „Auch heute noch, nachdem er sich 200 Jahre in der Lesewelt befindet, gilt von Laurence Sternes ‚The Life & Opinions of Tristram Shandy, Gentleman‘ das Urteil, daß es zu den 10 größten Büchern gehöre, die bisher in englischer Sprache geschrieben worden sind.“

Geschrieben hatte diesen originellen Ulk ein Landpfarrer, der bis dahin außer humorvollen Predigten und Briefen nichts zu Papier gebracht hatte. Erst als Mittvierziger machte sich Sterne daran, ähnlich wie sein Bruder im Geiste, Jonathan Swift, ganze philosophische Systeme und Weltanschauungen satirisch in Frage zu stellen. Man muss wohl in Irland aufgewachsen sein, um diesen humoristischen Blick dafür zu besitzen. Denn ähnlich wie der Autor von „Gullivers Reisen“ war auch der im irischen Clonmel geborene Sterne protestantischer Anglo-Ire, dessen englische Vorfahren das katholische Irland unterjocht hatten.

Sternes Vater hatte noch als Fähnrich im Dienst des Herzogs von Marlborough gegen die Franzosen gekämpft, war aber nach dem Frieden von Utrecht mittellos geworden und fristete in der ärmlichen Provinz im Süden Irlands mit seiner Familie ein trostloses Dasein. Da er der Enkel des Erzbischofs von York war, fühlte sich nach seinem Tod ein Verwandter verpflichtet, den Junior zum Studium nach Cambridge zu schicken.

Weniger aus Berufung denn aus Zweck­mäßigkeit wurde Sterne Geistlicher auf einer kleinen Pfarre bei York und heiratete eine zänkische Frau, die er durch amouröse Affären so eifersüchtig machte, dass sie ins Irrenhaus musste. Zu allem Überfluss wurde auch noch seine verarmte Mutter wegen Landstreicherei verhaftet, nachdem sie und seine Schwester ihm aus Irland nachgereist waren.

Wie um gegen das private Übel anzulachen, stürzte sich Sterne auf den „Tristram Shandy“, in dem es auch Missgeschicke und Unglücke sind, die „ab ovo“ eine ganze Kausalitätskette in Gang setzten. Die Zeugung des Helden geschieht ausgerechnet durch einen „coitus interruptus“, weil Mrs. Shandy mitten im üblicherweise ergebnislosen Beischlaf Mr. Shandy mit der Frage aus der Fassung bringt, ob er die Standuhr aufgezogen habe. Bei der Geburt zerdrückt der schusselige Landarzt Dr. Slop den Helden mit einer Geburtszange die „Nase“, was seitenlange Abschweifungen über Nasenlängen, die sich eher unterhalb der Gürtellinie befinden, nach sich ziehen. Und bei der Taufe kann sich die vergessliche Haushälterin nicht den komplizierten Namen Trismegistus merken, so dass der Pfarrer Yorick – ein alter ego Sternes – daraus Tristram macht.

Wahrlich ein Ritter der ganz traurigen Gestalt schon von Geburt an, setzen sich die Unglücke im Leben Tristrams fort, etwa wenn er beim Urinieren aus dem Fenster be­schnitten wird, weil ein Schiebefenster herabfällt. Das ist nicht bloß eine Parodie auf Sir Isaac Newton, der auf die Idee zur Gravitationstheorie erst kam, nachdem ihm ein Apfel auf den Kopf gefallen war, sondern das ganze Buch persifliert auch den Phi­losophen John Locke, der sich über Ursache und Wirkung den Kopf zerbrochen hatte. Weil nach seiner Theorie jeder Erkenntnis eine Erfahrung vorauszugehen hat, fragt sich im Roman etwa Tristrams gutmütiger Onkel Toby, wo der Ur-ur-ur-Ursprung seiner schmerzlichen Kriegserfahrung bei der Schlacht von Namur, einer Verletzung „irgendwo in er Leistengegend“, liegt.

Um das Kriegstrauma zu bewältigen hat er sich ein Steckenpferd („hobby-horse“) zugelegt: den Festungsbau sowie die Nachbildung der Schlacht im Sandkasten, wo­bei der Junggeselle zu guter Letzt sogar noch die at­traktive Witwe Wadman mit allem ihm noch zur Verfügung stehenden Geschützen „belagert“.

Ähnlich wie der sich in den Ursprüngen seiner Verletzung verlierende Onkel Toby – eine der liebenswürdigsten Figuren der englischen Literatur überhaupt – unterbricht auch der Erzähler ständig die Handlung, um die Vorgeschichte einer Vorgeschichte zu erzählen. Statt Fortschritte macht das Buch ironisierende Rückschritte. Der Erzähler kommt kaum hinterher, so schnell wächst Tristram. Es hat etwas vom Wettlauf zwischen Hase und Igel.

Dass sich Sterne diesen genialen Jux mitten in der Zeit der Aufklärung ausdenken konnte, liegt auch daran, dass es in England seit Defoes „Robinson Crusoe“ bereits eine lange Romantradition gab, die solche narrativen Experimente erst ermöglichten. Zu dieser Zeit war in Deutschland die Prosaform noch verpönt, in den feinen Kreisen las man lieber die Klopstockschen Versepen. Es war Goethe, der Sterne ausdrücklich lobte, und der mit seinem „Wilhelm Meister“ die Prosagattung als Entwicklungsroman in der Nachfolge „Tristram Shandys“ in Deutschland salonfähig machte.

Auf Sternes zweite und letzte wichtige Veröffentlichung, die damals höchst populäre „Empfindsame Reise durch Frankreich und Deutschland“, geht auch der Epochenbegriff „Empfindsamkeit“ zurück. Es war Lessing, der für die Übersetzung des englischen Titels „sentimental“ den Neologismus „empfindsam“ vorschlug und damit Sterne auch in Deutschland zu einem Zeitpunkt unsterblich machte, als dieser bereits an einem tödlichen Lungenleiden litt. Am 18. März 1768 starb er an einer Tuberkulose.

Ob Goethe, Wieland, Nietzsche oder Thomas Mann – für sie alle zählte „Tristram Shandy“ zu ihren Lieblingsbüchern. Jetzt bieten die Winterabende viel Gelegenheit, sich in dieses geniale Werk zu vertiefen. Beim Sterne-Lob vor 50 Jahren kritisierte Arno Schmidt die noch heute erhältliche Übersetzung des Winkler-Verlages. Die erotischen Doppeldeutigkeiten würden darin verloren gehen. Als Alternative bietet sich die als Fischer Taschenbuch erschienene jüngere Übersetzung von Michael Walter an. Harald Tews


Artikel per E-Mail versenden
  Artikel ausdrucken Probeabobestellen Registrieren