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30.11.13 / Weniger Politikverdrossenheit durch Ungleichheit

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 48-13 vom 30. November 2013

Gastkommentar
Weniger Politikverdrossenheit durch Ungleichheit
von Claus Wolfschlag

Ein schon in den 80er Jahren beliebter Slogan lautete: „Wenn Wahlen etwas verändern würden, wären sie schon längst verboten.“ Diese Aussage war Ausdruck der Machtlosigkeit angesichts vieler in den Hinterzimmern von Parteien und Finanzwelt getroffener Entscheidungen. Solche Art von „Politikverdrossenheit“ könnte durch den Ausgang der letzten Bundestagswahl verstärkt werden. Die Tatsache, dass etwa 16 Prozent der Wähler keine parlamentarische Vertretung erhalten haben, löste eine Dis-kussion zur Reform des Wahlrechts und zur Abschaffung der Fünf-Prozent-Hürde aus. Ein viel weitreichenderer Gedanke zur Wahlrechtsreform aber ist die Einführung eines ungleichen Wahlrechts, für das in diesem Beitrag plädiert wird: Das „Kumulations-Votum“.

Versuche mit dem ungleichen Wahlrecht existieren bislang nur sporadisch. Gelegentlich gibt es Begünstigungen nationaler Minderheiten wie des von der Fünf-Prozent-Klausel befreiten Südschleswigschen Wählerverbandes. Auch existiert ein faktisch ungleiches Recht bei der Wahl zum EU-Parlament, an dem sich niemand zu stören scheint. Die Wahlstimme eines Luxemburgers hat das zehnfache Gewicht zu der eines Deutschen.

Aus der deutschen Geschichte ist das Dreiklassen- oder Zensuswahlrecht bekannt, das vor allem im Königreich Preußen von 1849 bis 1918 bestand (siehe Seite 11). Die Wähler wurden dabei entsprechend ihrer geleisteten Einkommensteuer in drei Abteilungen (inkorrekt oft als „Klassen“ bezeichnet) eingeordnet und erhielten ein abgestuftes Stimmgewicht. Die dahinter stehende Idee war, dass diejenigen, die mit ihren Steuern die Staatsfinanzen tragen, auch mehr Mitsprache über die Ausgabe der Gelder erhalten sollten. Die Sozialdemokraten protestierten damals gegen dieses Wahlrecht, weil es konservative Parteien begünstigte, wenigen vermögenden Personen eine weit überproportionale Mitsprache ermöglichte, somit eine Politik für die Interessen Reicher begünstigen konnte.

In jüngster Zeit gab es Vorstöße zu einem ungleichen Familienwahlrecht. So forderte FDP-Entwicklungshilfeminister Dirk Niebel ein von den Eltern treuhänderisch übernommenes Wahlrecht für ihre Kinder, um die Familien zu stärken. Doch ist dies nicht unproblematisch, denn spätestens seit den Analysen Thilo Sarrazins ist bekannt, dass der bestehende Sozialstaat gerade für Hartz-IV-Empfänger finanzielle Anreize zum Kinderkriegen schafft. Ein Familienwahlrecht könnte also den politischen Einfluss von Sozialleistungsempfängern und die Aufblähung des Sozialstaats verstärken. Zudem ist das Wahlrecht verfassungsrechtlich schwer an Dritte übertragbar. Und: Wer wählt für das Kind – Vater oder Mutter? Oder beide zur Hälfte?

Das an dieser Stelle erstmals vorgestellte „Kumulations-Votum“ verfolgt einen weitreichenderen Ansatz. Regelmäßig wird in politischen Diskussionen die mangelnde politische Bildung des Wahlvolkes beklagt. Die Aufgaben der politischen Institutionen sind vielen gar nicht bekannt. Und spricht man mit Bürgern, werden oft irrationale Begründungen für deren Wahlentscheidungen geliefert – Kleidung, Sprachduktus oder Fernsehauftritte von Politikern. Die Stimme eines politisch weitgehend Uninformierten zählt dabei exakt so viel wie die eines umfassend gebildeten Professors, was zu einer qualitativen Schieflage führt. Weder werden Kenntnisse zu Politik und Staatsaufbau ausreichend berücksichtigt, noch ein gesellschaftlich förderliches Verhalten. Die Einführung eines ungleichen Wahlrechts würde dem entgegen wirken.

Für die radikale Linke ist das bestehende Wahlrecht bereits „ungleich“, da an die Staatsbürgerschaft gekoppelt. Ausländer können nicht einfach die Zusammensetzung des Bundestages mitbestimmen. Aus strategischen und ideologischen Gründen wird deshalb von links an der steten Aushöhlung des Staatsbürgerbegriffs gearbeitet. Irgendwie soll jeder überall mitbestimmen können. Jedem die Staatsbürgerschaft oder das Wahlrecht wahllos ohne Gegenleistung zu schenken, fördert aber keine Integration oder gar Qualität.

Da keine politische Kraft Bürgern ihre Wahlstimme aberkennen möchte, gelingt die qualitative Steigerung wohl nur über die Erweiterung der Wahlstimmen. Das ungleiche „Kumulations-Votum“ sieht deshalb vor, jenen Bürgern mehr Mitsprache zu ermöglichen, die sich positiv für das nationale Gemeinwesen einsetzen. Wer sich bildet und gesellschaftlich engagiert, erhält dafür bis zu 100 Wahlpunkte, die jeweils für weitere Wahlstimmen stehen.

Eine festgelegte Zahl an Wahlpunkten könnte man zum Beispiel für ein abgeleistetes soziales Jahr im Krankenhaus oder für ehrenamtliches Engagement in gemeinnützigen Einrichtungen erhalten, etwa der freiwilligen Feuerwehr. Auch das Aufziehen von Kindern könnte mit Wahlpunkten belohnt werden. Ebenso sollten viele Wahlpunkte über das Absolvieren eines staatsbürgerlichen Bildungstests vergeben werden. Dabei würde das Grundwissen über die staatlichen Institutionen und politischen Strukturen abgefragt. Straftätern könnten hingegen wieder Wahlpunkte abgezogen werden. Jeder startet als Neuwähler bei 1 und kann dann durch sein Verhalten den politischen Einfluss vermehren. Anstrengungen für die Nation werden also mit mehr Mitsprache am Staat belohnt.

Die Kosten des bürokratischen Mehraufwands dürften durch die sich daraus entwickelnde Verbesserung des politischen Diskurses und Personals gemildert werden. Politiker, die nur auf Showeffekte und Floskeln setzen, dürften gegenüber einem informierteren und engagierten Wahlvolk weniger Chancen haben. Durch Stimmenkumulation gestärkte kritische Wähler würden einer Politik gegen die Interessen des Landes mehr auf die Finger schauen.

Die Praxis könnte beispielsweise so aussehen: Wahlpunkte müssen behördlich beantragt werden gegen Vorlage von Bescheinigungen des erfolgreich absolvierten Bildungstests oder ehrenamtlicher Tätigkeiten. Die Wahlbehörde vergibt daraufhin die Wahlpunkte, die elektronisch gespeichert und auf der Wahlbenachrichtigung vermerkt werden. Im Wahlbüro werden die Daten abgeglichen und die Wahlpunkte auf dem Stimmzettel amtlich vermerkt.

Da jedes System auch eine Achillesferse hat, muss möglichem Missbrauch vorgebeugt werden. Um eine Identifizierung von Wählern anhand der Wahlpunkte zu verhindern, werden Stimmzettel nicht mehr im Stimmbezirk, sondern gesammelt im Wahlamt ausgezählt und von Datenschützern überwacht. Wahlpunkte darf man zudem nur für unpolitisches Engagement bei zertifiziert gemeinnützigen Institutionen erhalten, nicht aber bei explizit politischen Organisationen, Vereinen und Stiftungen.

Durch das „Kumulations-Votum“ wird eine qualitative Steigerung der politischen Mitsprache ermöglicht. Aber es ist klar, dass das ungleiche Wahlrecht so lange nicht eingeführt wird, wie die derzeit herrschenden Parteien noch bequem mit dem gleichen Wahlrecht regieren können.

Der Autor wurde 1966 in Nordhessen geboren. Er studierte Geschichte, Kunstgeschichte und Politikwissenschaft in Frankfurt am Main und Bonn. Seit vielen Jahren ist er als Journalist, Kultur- und Geisteswissenschaftler für Magazine, Wochen- und Tageszeitungen tätig. Er veröffentlichte Bücher zu den Themenbereichen Geschichte, Politik und Kunst, darunter „Das goldene Tor“ über den Jugendstil-Maler Ludwig Fahrenkrog (2006) sowie „Traumstadt und Armageddon“ über die Geschichte des Science-Fiction-Films (2007).


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