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30.11.13 / Statt nur drei gleich 28 Klassen / Parallelen und Unterschiede zwischen dem Wahlrecht Preußens 1849 bis 1918 und dem aktuellen der EU

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 48-13 vom 30. November 2013

Statt nur drei gleich 28 Klassen
Parallelen und Unterschiede zwischen dem Wahlrecht Preußens 1849 bis 1918 und dem aktuellen der EU

Es wäre ein Irrtum anzunehmen, dass die Europäische Union, nur weil sie zur westlichen Wertegemeinschaft gehört, ein demokratisch legitimiertes Parlament besäße. Vielmehr hängt das Gewicht der Stimme jedes EU-Bürgers entscheidend davon ab, welchem der gegenwärtig 28 Mitgliedsstaaten er angehört. Analog zum preußischen Drei-Klassen-Wahlrecht ließe sich insofern also von einem 28-Klassen-Wahlrecht sprechen. Überhaupt lohnt sich ein Vergleich der beiden Wahlrechte.

Gerne wird von einer Demokratisierung der Europäischen Union gesprochen, wenn eine Stärkung des Europäischen Parlamentes gemeint ist. Parlamentarisierung führt aber nur dann zur Demokratisierung, wenn das Parlament demokratisch legitimiert ist. Und die demokratische Legitimierung eines Parlamentes ist nur dann gegeben, wenn dieses Parlament aus demokratischen Wahlen hervorgeht, sprich aus Wahlen, die allgemein, frei, gleich und geheim sind.

Die Gleichheit des Wahlrechts fehlt jedoch bei den Wahlen zum Europäischen Parlament. Vielmehr dürfen die Wähler jedes EU-Mitgliedes einen festgelegten Anteil der Parlamentarier bestimmen, der allerdings nicht dem Anteil an der Gesamtwählerschaft der EU entspricht, sondern willkürlich festgesetzt ist. Politisch gewollt sind die Wähler in kleineren EU-Mitgliedsstaaten über- und die in größeren unterrepräsentiert. Je bevölkerungsreicher der EU-Mitgliedsstaat ist, dem ein Wähler angehört, desto geringer sein Gewicht bei den Wahlen zum Europaparlament. Da bei jedem der 28 EU-Mitgliedsstaaten das Verhältnis von Wählern zu zugestandenen Abgeordneten ein anderes ist, ließe sich insofern von einem 28-Klassen-Wahlrecht sprechen.

Begründet wird diese ungleiche Vertretung mit Minderheitenschutz für die Bevölkerungen der Kleinstaaten. Dabei sind jene, die diese Rechtfertigung vorbringen, nicht selten dieselben, die am Ende der Apartheid „One man, one vote“ („Ein Mann, eine Stimme“) für Südafrika gefordert haben – ohne dass sie irgendwelche Minderheitenrechte der dortigen weißen Bevölkerung daran gehindert hätten.

Mit dem für die Legitimierung des Wahlrechts für das EU-Parlament herangezogenen Minderheitenschutz ließe sich auch das preußische Drei-Klassen-Wahlrecht rechtfertigen, nämlich mit Minderheitenschutz für die Reichen. Bei diesem nach der 48er Revolution in Preußen eingeführten Wahlrecht für das Abgeordnetenhaus wurden statt Angehöriger kleiner Staaten große Steuerzahler begünstigt. Es folgte dem Motto „Wer zahlt, schafft an“. Wer überdurchschnittlich viel zum Steueraufkommen beitrug, sollte auch überdurchschnittlich an der Entscheidung beteiligt werden, wie diese Steuereinnahmen vom Staat zu verwenden sind. Das Etatrecht gehört im doppelten Wortsinn zu den ersten Rechten des Parlaments. Deshalb war es nicht ohne innere Logik, dass das Drei-Klassen-Wahlrecht Bürger, die hohe Steuern zahlten, bei der Wahl des Abgeordnetenhauses bevorzugte. Das mag man aus guten Gründen für ungerecht halten. Doch wird ja auch bei der Wahl des Aufsichtsrates einer Aktiengesellschaft bis zum heutigen Tage nicht das Motto „Ein Aktionär, eine Stimme“ angewandt. Vielmehr gilt auch dort der Grundsatz, wer überdurchschnittlich am Grundkapital beteiligt ist, hat auch ein überdurchschnittliches Mitspracherecht bei der Aufsichtsratszusammensetzung. Wer als Kandidat eine Mehrheit des Grundkapitals, beziehungsweise dessen Besitzer, hinter sich bringt, ist gewählt, egal, wie groß die Zahl der Besitzer ist.

Dieser Grundidee folgte auch das Drei-Klassen-Wahlrecht, dessen Prinzip hier kurz ohne Anspruch auf Vollständigkeit erklärt sei. Die Wählerschaft wurde in drei Abteilungen (Klassen) aufgeteilt. Die erste Abteilung bildeten die größten Steuerzahler, die zusammen ein Drittel des Steueraufkommens aufbrachten. Zur dritten Abteilung gehörten die kleinsten Steuerzahler, die zusammen ein weiteres Drittel aufbrachten. Die vom zu versteuernden Einkommen her dazwischen liegenden verbleibenden Steuerzahler, von denen das übrigbleibende dritte Drittel der direkten Steuereinnahmen stammte, wurden zur zweiten Abteilung zusammengefasst. Diese Abteilungen wählten nun gleich viele Wahlmänner, die ihrerseits die Abgeordneten wählten. Es handelte sich also um eine indirekte Parlamentswahl, ähnlich den Präsidentschaftswahlen in den Vereinigten Staaten.

Im letzten Friedensjahr vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, also 1913, gab es in Preußen 190444 gültige Wählerstimmen in der ersten Abteilung und 1990262 in der dritten. Da beide Abteilungen die gleiche Anzahl an Wahlmännern wählten, hatten die Stimmen der Wähler der ersten Abteilung also im Durchschnitt ein 10,45-mal höheres Gewicht als jene der dritten. Das entspricht etwa dem Gewichtsunterschied der Stimmen von Luxemburgern und Deutschen bei den nächsten Wahlen zum Europäischen Parlament. Da Luxemburg mit gegenwärtig rund 0,537 Millionen Einwohnern, von denen auch noch 44,5 Prozent Ausländer sind, sechs Abgeordnete und die Bundesrepublik mit zurzeit 80,548 Millionen 96 stellen wird, werden auf einen luxemburgischen EU-Parlamentarier 89500 Einwohner kommen, auf einen deutschen hingegen 839042. Das entspricht einem Verhältnis von eins zu 9,37.

Das Drei-Klassen-Wahlrecht wurde 1918 abgeschafft. Der Wahlmodus für das EU-Parlament gilt hingegen noch heute. Dabei wäre eine Demokratisierung auch ohne Verletzung der Interessen der kleineren Nationen durchaus möglich – wenn man es denn nur will. Eine Lösung bestünde in einem Zwei-Kammern-Parlament mit einer Volks- und einer Staatenkammer, das nur mit Zustimmung beider Häuser Beschlüsse fassen könnte. Die erste Kammer würde aus allgemeinen, freien, geheimen und gleichen Wahlen der EU-Bürger hervorgehen und wäre damit demokratisch legitimiert. Und in der zweiten Kammer könnten die Angehörigen kleinerer Staaten nach Belieben überrepräsentiert sein, bis hin zum Grundsatz „Ein Staat, eine Stimme“. Eine solche Zwei-Kammer-Lösung würde zwar nicht bewirken, dass alles, was die Mehrheit der EU-Bevölkerung will, auch beschlossen wird. Aber es würde wenigstens sicherstellen, dass nichts gegen den Willen der Bevölkerungsmehrheit getan wird. Und das wäre angesichts des Demokratiedefizits von EU und EU-Parlament schon eine große Errungenschaft. Manuel Ruoff


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