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30.11.13 / Nicht nur sein Kniefall polarisierte / Kein Kanzler der Bundesrepublik Deutschland war zeitlebens umstrittener als Willy Brandt

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 48-13 vom 30. November 2013

Nicht nur sein Kniefall polarisierte
Kein Kanzler der Bundesrepublik Deutschland war zeitlebens umstrittener als Willy Brandt

Willy Brandts 100. Geburtstag am 18. Dezember wird in den Medien zelebriert wie der einer Ikone. Einer Ikone, der Konrad Adenauer 1961 „Vaterlandsverrat“ vorwarf und die heute manchem reif für die Seligsprechung scheint – wenn es die für Politiker denn gäbe.

Wenn Konrad Adenauer über Willy Brandt sprach, stichelte er gerne „Brandt alias Frahm“. Herbert Ernst Karl Frahm, so lautete dessen vollständiger Geburtsname, den er im Widerstand gegen die Nationalsozialisten gegen den Tarnnamen „Willy Brandt“ tauschte. Herbert Frahm kam am 18. Dezember 1913 in Lübeck in einem schmucklosen Vorstadthaus nahe dem Bahnhof zur Welt. Seine ledige Mutter, Martha Frahm, arbeitete als Verkäuferin im Konsumverein. Den Namen des Vaters nannte sie nicht, als sie die Geburt ihres Sohnes eintragen ließ. Erst 1947 erfuhr Willy Brandt, wer sein Vater war: der Lehrer John Möller aus Hamburg, der 1912 und 1913 in Lübeck unterrichtete. Brandt hat den Vater nie kennengelernt. Nach einer oft wiederholten Fama erfuhr Brandt erst 1961 dessen Namen. Da war John Möller bereits drei Jahre tot.

Die Beziehung zur Mutter wurde als wenig liebevoll beschrieben. Eine innige Beziehung baute das Kind nur zu seinem Stiefgroßvater Ludwig Frahm auf. Der war Fahrer beim Dräger-Werk. Diesen Mann, in dessen Haushalt Herbert Frahm aufwuchs, nannte er „Papa“.

Vom Stiefgroßvater Ludwig Frahm hat der Enkel die Lektionen seiner Sozialisation gelernt. Das war, als sie bei Dräger streikten. Der Junge Herbert lungerte in der Nähe des Werkes herum. Einer der Direktoren fragte ihn, ob er wohl Hunger habe, nahm ihn mit zu einem Bäcker und schenkte ihm zwei Brote. Die brachte Herbert wohl stolz seinem Stiefgroßvater, aber der reagierte ganz anders als erwartet. Er soll gesagt haben: „Wir lassen uns nicht vom Feind bestechen. Wir wollen unser Recht, keine Geschenke.“ Der Junge musste die Brote wieder zum Bäcker bringen.

Die Frahms hatten ihren Platz in ihrer proletarischen Welt – und der schien unverrückbar. Selbst als durch die Förderung aufmerksamer Lehrer und auch des Stiefgroßvaters der Wechsel auf ein Gymnasium möglich wurde, änderte sich daran nichts.

Auf dem Gymnasium „Johanneum“, „wo ein zweiter Arbeiterjunge nicht zu finden war“, nannten sie ihn bald den „Politiker“. Sein Zuhause fand er bei der Sozialistischen Arbeiterjugend (SAJ). Einer seiner Lehrer warnte die Mutter: „Halten Sie Ihren Sohn von der Politik fern. Der Junge hat gute Anlagen, es ist schade um ihn. Die Politik wird ihn ruinieren.“ Nichtsdestotrotz trat er 1930 der SPD bei – um sie bereits im darauffolgenden Jahr wegen deren „Mutlosigkeit“ wieder zu verlassen. Sie war ihm nicht links genug. Stattdessen schloss er sich der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD) an, einer linkssozialistischen Gruppe, die sich im Herbst 1931 von der SPD abgespalten hatte.

Nach der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten hielt es das Gründungsmitglied des Lübecker Ortsverbands der SAPD und Mitglied ihres Vorstandes für angeraten abzutauchen. Im April 1933 setzte er sich von Travemünde mit dem Kutter TRA 10 Richtung Dänemark ab. Sein Stiefgroßvater hatte ihm 100 Mark zugesteckt, im Gepäck befand sich der erste Band von „Das Kapital“ von Karl Marx. Am nächsten Morgen wurde das dänische Rödbyhavn erreicht. Herbert Frahm nannte sich von nun an Willy Brandt.

Über Kopenhagen führte der Weg nach Oslo, wo er das Büro der SAPD übernehmen sollte. Es folgten Jahre im Untergrund, in denen Briefe mit unsichtbarer Tinte geschrieben und Flugblätter in Koffern mit doppeltem Boden in das Reich geschmuggelt wurden. Als Norwegen von der Wehrmacht besetzt wurde, geriet er 1940 in deutsche Gefangenschaft. Da er eine norwegische Uniform trug, wurde er nicht enttarnt.

Nach seiner Freilassung noch im selben Jahr setzte er sich nach Schweden ab, wo der von den Nationalsozialisten ausgebürgerte Exilant in der Botschaft Norwegens einen norwegischen Pass erhielt und seine bereits in der Weimarer Zeit begonnene journalistische Arbeit fortsetzen konnte. Nach dem Ende von NS-Herrschaft und Zweitem Weltkrieg kehrte er noch 1945 als Korres­pondent nach Deutschland zurück.

1947 ließ sich Brandt wieder einbürgern – unter dem Namen Willy Brandt. Von 1949 bis 1957 vertrat er als Abgeordneter für die SPD Berlin im Deutschen Bundestag. Von 1957 bis 1966 war er Regierender Bürgermeister des Stadtstaates. Es waren die heißen Jahre des Kalten Krieges, in denen die Mauer gebaut wurde.

Nachdem er bei den Bundestagswahlen von 1961 und 1965 vergebens gegen die CDU-Bun­des­kanzler Konrad Adenauer und Ludwig Erhard angetreten war, gelang ihm nach Erhards Sturz 1966 der Wechsel vom Berliner Senat in die Bundesregierung, denn Erhards Nachfolger Kurt Georg Kiesinger stützte sich statt auf eine bürgerliche auf eine Große Koalition mit der SPD. Brandt übernahm das Außen­ministerium und wurde Stellvertreter des Kanzlers.

Nach der Bundestagswahl 1969 entschied sich Brandt für eine Koalition mit der FDP. Mehrere bis heute wirkende Schlagworte und Zielsetzungen prägten Brandts Amtszeit in der sozialliberalen Koalition: „Wir wollen mehr Demokratie wagen“, „Neue Ostpolitik“, „Wandel durch Annäherung“.

Willy Brandts Kniefall am Mahnmal des Ghetto-Aufstandes in Warschau setzte im Dezember 1970 ein weltweit beachtetes Zeichen. Er war Ausdruck einer Politik gegenüber den Ostblockstaaten, die 1970 die Ostverträge mit der Sowjetunion und Polen zum ersten Ergebnis hatte. In beiden Verträgen wurde die Oder-Neiße-Linie faktisch als Westgrenze Polens anerkannt und auf jegliche Besitzansprüche aus der Vergangenheit verzichtet. 1971 erhielt Willy Brandt für diese gegen den entschiedenen Widerstand von CDU und CSU durchgesetzte Politik den Friedensnobelpreis. 1972 folgte der Grundlagenvertrag mit der DDR. Darin wurde der Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik aufgegeben. Am Ende stand zwar nicht die völkerrechtliche Anerkennung der DDR, wie von dieser angestrebt, sondern die abgestufte staatsrechtliche Anerkennung, doch mit diesem Schritt galt die DDR letztendlich als souverän.

Erst sehr viel später wurde bekannt, in welchem Maße die Stasi der DDR jenseits der Verhandlungstische mitmischte. Als der CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende Rainer Barzel 1972 versuchte, Brandt über ein konstruktives Misstrauensvotum zu stürzen, da scheiterte er an zwei fehlenden Stimmen aus dem eigenen Lager. Jeweils ein Abgeordneter der CDU und der CSU waren von der Stasi gekauft worden. Der Verrat kostete pro Stimme 50000 Mark.

Die dem Misstrauensvotum noch im selben Jahr folgende vorgezogene Bundestagswahl brachte beiden Regierungsparteien Stimmengewinne. Umso überraschender war für die Öffentlichkeit das rasche Ende der Regierung Brandt. Über den Hang „Weinbrand-Willys“ zum Alkohol und seine überdurchschnittliche Zuwendung zum weiblichen Geschlecht gab es massive Gerüchte. 1974 kursierte ein Geheimdossier des Bundeskriminalamtes, das akribisch auflistete, welche erotischen „Zuführungen“ wann und wo stattgefunden hatten. In dieser – etwas längeren – Liste war nachzulesen, welche Damen dem Kanzler außerhalb des Ehebetts zu Diensten gewesen waren. Das Papier hatte Horst Herold, Präsident des Bundeskriminalamtes, veranlasst, es war also amtlich. Das war schon pikant genug. Sehr viel schlimmer aber war der Umstand, dass der Referent des Kanzlers, der die Damen seinem Herrn auf den letzten Metern „zuführte“, der enttarnte DDR-Spion Günter Guillaume war. Schlimmer noch: Brandt hatte dessen spezielle Dienste noch lange weiter in Anspruch genommen, nachdem der Hauptmann der Nationalen Volksarmee bereits in Verdacht geraten war. Die Stasi hatte weiter ungestört mithorchen können.

Am 6. Mai 1974 erklärte Bundeskanzler Willy Brandt seinen Rücktritt. Er blieb aber weiter politisch aktiv. So behielt er den 1964 von Erich Ollenhauer übernommenen Parteivorsitz bis 1987. Ein halbes Jahrzehnt später, am 8. Oktober 1992, starb er an den Folgen einer Krebserkrankung. Auf dem Waldfriedhof in Berlin wurde er beigesetzt. Klaus J. Groth


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