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28.07.17 / Gegenwind / Das Kräfteparallelogramm im Nahen Osten

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 30-17 vom 28. Juli 2017

Gegenwind
Das Kräfteparallelogramm im Nahen Osten
Florian Stumfall

Das Kräfteparallelogramm im Nahen Osten ist zum einen gekennzeichnet durch die divergierenden Interessen der dortigen Länder, zum anderen durch die Einflüsse, die entlegene Mächte dort geltend machen. Zu den ersteren gehören als erstrangige Kräfte die Türkei, der Iran, Saudi-Arabien und – mehr im Unsichtbaren, aber umso gründlicher agierend – Israel. Alle diese Länder trennen teils elementare Unterschiede, so der persisch-arabische Gegensatz, das innerislamische Schisma oder auch die osmanischen Großmachtträume der Türken. Was Israel angeht, so gibt es auch hier eine Langzeitplanung, deren Verwirklichung eine völlig neue Grenzziehung im Nahen und Mittleren Osten nach sich zöge.

In dieser Weltregion spielt zunächst einmal die gewaltige Anhäufung von Kriegsmaterial eine herausragende Rolle. Dazu ein signifikanter Vergleich: Saudi-Arabien hat neun Zehntel weniger Soldaten unter Waffen als Frankreich, aber einen gleich großen Verteidigungshaushalt. Man mag sich ausmalen, wer alles in Nahost von den Saudis versorgt wird. Dann ist natürlich auch der Umstand von großer Wichtigkeit, dass hier unübersehbare Reserven an Kohlenwasserstoffen lagern – ein Politikum aus sich selbst heraus. 

Wo es um Erdöl und Erdgas geht, um große Mengen davon, sind die USA nie fern. Zu den wenig stabilen Faktoren der Region gehört die Achse Washington–Riad und die Feindschaft beider gegenüber dem Iran. Zuverlässiger ist das Bündnis des Iran mit Russland, während die Türkei in ihrer Wankelmütigkeit keinen berechenbaren Kurs verfolgt. Derzeit steht sie als NATO-Mitglied der Russischen Föderation näher als den Vereingten Staaten von Amerika.

Das Bündnis muss auf diese Weise derzeit einige Belastungen ertragen. Dazu gehört der Entschluss der Türkei, in Russland Flugabwehrraketen vom Typ S-400 „Triumf“ zu kaufen. Ein NATO-Mitglied deckt sich in Russland ein. Man erinnert sich: Vor nicht allzu langer Zeit noch standen deutsche „Patriot“-Raketensysteme US-amerikanischer Bauart an der türkischen Südgrenze, um den Partner vor irgendwem zu schützen. Jetzt kauft Ankara russische Abwehrwaffen, denen gegenüber die „Patriot“ keinen Vergleich aushalten – die russische S-Reihe ist derzeit weltweit konkurrenzlos. Pentagonsprecher Jeff Davis forderte dieser Tage, die Türkei müsse ihr S-400-Programm offenlegen. Da die Türkei NATO-Mitglied sei, erwarteten die USA Erklärungen, wie sie ihre Mitgliedschaft im Atlantischen Bündnis sieht. 

Da die Türkei NATO-Mitglied ist, erwarteten die USA nun Erklärungen, unter anderem zur Waffenkompatibilität, hieß es. Der Vorsitzende des Vereinigten Generalstabs der US-Streitkräfte, Joseph Dunford, erklärte auf einem Sicherheitsforum in Aspen, Colorado, die Möglichkeit, dass die Türkei die S-400 kaufe, sei alarmierend. Die Antwort des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan grenzte an Häme:

„Warum soll das alarmieren?“, fragte er und fuhr fort, sein Land sorge für seine Sicherheit und gehe von den bestehenden Optionen aus. Da einschlägige Verhandlungen mit den USA ergebnislos geblieben seien, habe die Türkei begonnen, Pläne bezüglich der S-400 zu machen, ob es den USA passe oder nicht. Im Übrigen seien die Verhandlungen mit Russland im Wesentlichen abgeschlossen.

Der Verkauf von Abwehrraketen ist indes nicht die einzige Beteiligung Russlands im Schachspiel namens Nahost. Seit Syriens Präsident die Russen um Hilfe im Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) gebeten hat, erleiden die Terroristen Niederlage auf Niederlage, während sie ihre Macht solange hatten ausdehnen können, wie die USA allein das Feld beherrschten. Sogar Dunford hat kürzlich eingeräumt, dass Russland und der Iran bestimmte Erfolge bei der Regelung der Krise in Syrien erzielt hätten. 

Während Russland und der Iran in Syrien ein Ziel verfolgen, das mittelfristig zu erreichen sein sollte, betreiben die beiden Länder im Iran selbst ein langfristiges Projekt von wahrhaft gigantischem Ausmaß. Mit russischer Hilfe baut der Iran einen Kanal vom Kaspischen Meer in den Persischen Golf. Zwei Basisdaten beschreiben den Umfang des Unternehmens: Der Kanal dürfte eine Länge von 735 Kilometern aufweisen und seine Kosten werden auf zehn Milliarden US-Dollar veranschlagt. 

Dass man in Teheran überhaupt an ein derartiges Vorhaben denken darf, zeigt, dass die US-Politik der Sanktionen gegen den Iran ins Leere gelaufen ist. Das Land konnte sich mit Russlands Hilfe sowohl aus der diplomatischen Isolation als auch aus den wirtschaftlichen Zwängen befreien, die durch die Sanktionen beabsichtigt gewesen waren. Mit dem Vorhaben wird ein Plan verwirklicht, der, beflügelt durch die erfolgreiche Errichtung des Suezkanals in Ägypten, erstmals bereits im späten 19. Jahrhundert erörtert worden ist.

Mit der neuen Schifffahrtsstraße entsteht eine Route unter der Hoheit ausschließlich Russlands und des Iran. Damit ist die strategische Bedeutung des Bos­porus für die Türkei minimiert, und der Suezkanal wird zumindest für Russland an Wichtigkeit verlieren. Jetzt schon gibt es mit dem Wolga-Don-Kanal einen schiffbaren Weg vom Kaspischen zum Schwarzen Meer. Die Länder des Mittleren Ostens werden für russische Schiffe gewissermaßen vor der Haustür liegen. Für ganz Russland und ganz Mittelasien verschieben sich die Handelswege zulasten der Türkei und die jahrtausendealte Wächterrolle am Bosporus verliert an Wichtigkeit, was sie an Beschaulichkeit gewinnen wird. Für Russland aber wird dann der alte Wunsch nach einem Zugang zum Indischen Ozean Wirklichkeit. Dies geschieht im Zusammenhang mit dem Bau der Neuen Seidenstraße, der hauptsächlich durch China vorangetrieben wird (siehe Seite 4). Die handelspolitische Synergie dieser beiden Komponenten ist überhaupt nicht zu ermessen. China ist daher der geborene Befürworter des Kanalbaus, denn darin muss Peking die ideale Ergänzung zum Ausbau der Seidenstraße sehen. 

Natürlich birgt der neue Kanal durch den Iran auch militärstrategische Aspekte. Das ist wichtig vor allem in einer Zeit wie heute, da die USA und mit ihr verschiedene NATO-Staaten dabei sind, das Schwarze Meer als ihren eigenen Einflussbereich zu requirieren. Das ist, als nähme Russland den Golf von Mexico in Besitz. Die USA brechen dabei unbekümmert das Abkommen von Montreux und schicken Kriegsschiffe ganz nach Belieben durch den Bosporus.

Auf diesen wird Russland sehr bald nicht mehr angewiesen sein, und was, strategisch gesehen, seine Schwarzmeerküste angeht, so kann es sich auf rein defensive Maßnahmen beschränken. Die Sorge, wie Moskau im Bedarfsfall Einheiten der Kaspischen Flotte etwa in den Indischen Ozean senden könnte, ist damit hinfällig. Selbstverständlich ist das Kanalprojekt geeignet, zumindest in dieser Sache wieder für mehr Nähe zwischen Washington und der Türkei zu sorgen. Beide sind erklärte Gegner des Vorhabens, haben aber keine guten Möglichkeiten, es zu sabotieren, wie die USA die South-Stream-Gas-Pipeline durch das Schwarze Meer und über den Balkan sabotiert haben.

Diese Skizze der Kräfteverteilung in Nahost steht unter dem Vorbehalt der Vorläufigkeit.Florian Stumfall