19.04.2024

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28.07.17 / Reine Kopfarbeit / Oskar Negts Spurensuche in Ostpreußen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 30-17 vom 28. Juli 2017

Reine Kopfarbeit
Oskar Negts Spurensuche in Ostpreußen
Harald Tews

Ab einem bestimmten Alter wächst die Erinnerung an Kindheit und Jugend. So auch bei dem aus Königsberg stammenden Soziologen Oskar Negt, der mit 82 Jahren eine autobiografische Spurensuche über seine Flucht als Zehnjähriger aus Ostpreußen vorgelegt hat. Mit seinem Buch „Überlebensglück“ geht Negt eine riskante Gratwanderung ein. In Hannover, wo er als Professor einen Lehrstuhl hatte, galt er als Ikone der Linken. Diesen Ruf setzt er aufs Spiel, wenn er sich mit Themen befasst, mit denen er sich bei seinen Anhängern einer konservativ verstandenen „Heimattümelei“ verdächtig macht. 

Doch der Drang, sich mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen, ist auch bei Negt ausgeprägt. Schon 1998 setzte er mit „Königsberg – Kaliningrad“ seiner Geburtsstadt ein literarisches Denkmal. In „Überlebensglück“ unternimmt er nun erneut einen Anlauf zurück zur  Heimat. Allerdings betritt er dabei verschlungene Pfade und nimmt die Tarnung eines Topografen an, der mit wissenschaftlicher Akribie autobiografische Orientierungspunkte absteckt. Er startet konventionell mit der Fluchtschilderung, als er nach einem Zugunfall von den Eltern getrennt wurde, und zieht das – oft gehörte – Fazit: „Es war der 25. Januar 1945. An diesem Tag endete meine Kindheit.“

Kurz danach bricht das Fluchterlebnis ab, und was folgt, kann man als soziologische Theorie der Autobiografie bezeichnen. Negt bringt Kant, Freud, Adorno und natürlich auch Marx ins Spiel, mit denen er eine ideologische Rechtfertigung seines autobiografischen Versuches unternimmt. Ihm scheint es selbst nicht ganz geheuer zu sein, nach den eigenen Fluchtursachen zu forschen, wenn aktuell von Afrika aus ganz andere Fluchtmotive mit ins Spiel kommen. Seine von ihm selbst so bezeichnete „Collage“ von autobiografischen Teilen und theoretischen Abhandlungen, enthält daher auch sehr zeitgeistgemäße Gedanken zur gegenwärtigen Asyldebatte.

Der Leser hat die Wahl: Er kann diese theoretische Kopfarbeit überblättern und sich auf Negts biografische Collagenteile konzentrieren. Wer das zu langweilig findet (ist es aber nicht) und seinen Kopf anstrengen möchte, für den bleibt der soziologische Überbau.

Oskar Negt: „Überlebensglück“, Steidl, Göttingen 2016, gebunden 320 Seiten, 24 Euro