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11.08.17 / Gegenwind / Der pünktliche Tod des Letzten von Spandau

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 32-17 vom 11. August 2017

Gegenwind
Der pünktliche Tod des Letzten von Spandau
Florian Stumfall

Die eigentliche Sensation ist längst Geschichte: Am 10. Mai 1941, mitten im Krieg, flog der „Stellvertreter des Führers“, Rudolf Heß, allein nach Großbritannien, wurde dort festgenommen und im Jahre 1946 in Nürnberg vor das Internationale Militärtribunal gestellt. Dieses verurteilte ihn zu le­-    benslänglicher Haft. Soweit ist alles unbestritten, doch flog Heß im Auftrag nach Schottland oder aus eigenem Entschluss, und welche Absicht war damit verbunden, und wie verhält es sich mit seinem Tod? Darauf gibt es nach wie vor widerstreitende Antworten.

Am 17. August 1987 kam Heß im Gefängnis Berlin-Spandau ums Leben, nachdem er dort 41 Jahre Haft verbüßt hatte, in der letzten Zeit als alleiniger Insasse der Haftanstalt, die für deutsche Kriegsverbrecher aus dem Zweiten Weltkrieg vorbehalten war – ein erratischer Geist, der aus einer vergangenen Epoche in eine Gegenwart waberte, an der er keinen Anteil mehr hatte. Jetzt, 30 Jahre nach seinem Tod, gab das britische Nationalarchiv einen Teil der Akte Heß frei, teils, um der Gewohnheit zu entsprechen, wonach binnen dreier Jahr-zehnte die Schutzwürdigkeit von Dokumenten erlischt, teils aber auch, um den vielen Mutmaßungen, die sich um den Tod von Rudolf Heß ranken, ein Ende zu setzen.

Diese Absicht ist gründlich misslungen. Das liegt im Wesentlichen daran, dass die entscheidenden Unterlagen weiterhin geheim gehalten werden. So bleibt der Bericht der britischen Militärpolizei über die Ermittlungen im Falle Heß weiterhin für Jahrzehnte unter Verschluss. Andererseits gibt es nach wie vor ernsthafte Zweifel hinsichtlich des Todes von Heß. Die offizielle Version lautet, er habe sich im Gartenhaus der Anstalt mit dem Stromkabel einer Stehlampe aufgehängt. Dagegen wird eingewandt, der alte Mann, der sich wegen seiner Arthrose in den Händen nicht einmal mehr die Schuhe hatte binden können, wäre völlig außerstande gewesen, sich mit einem Kabel aufzuknüpfen.

Zweifel an der üblichen Darstellung 

weckt auch die beeidete Aussage des US-amerikanischen Wachhabenden Anthony Jordan: „Als ich das Gartenhaus betrat, sah es dort wie nach einem Ringkampf aus, alles war durcheinander. Eine hohe Lampe war umgefallen, aber ich erinnere mich deutlich, dass das an der Lampe befestigte Kabel noch an der Netz-Steckdose angeschlossen war.“ Neben der Leiche von Heß traf Jordan auf zwei Männer in US-Uniformen, die er nicht kannte, außerdem war ein US-amerikanischer Wärter zugegen, der Jordan bekannt war.

Da im Falle Heß die Tatsachen rar und kostbar sind, muss man sich bei einem näheren Blick auch auf die Plausibilität stützen. Das gilt vor allem für die viele Jahre langwiederholte Beteuerung der West-Alliierten, die sich monatlich in der Bewachung von Heß mit der Sowjetunion ablösten, sie ließen, wenn es nach ihnen ginge, Heß sofort frei. Es seien nur die Sowjets, die auf einer Fortsetzung der Haft bestünden.

Andererseits hatte Heß während seiner gesamten Zeit im Gefängnis nicht ein einziges Mal die Möglichkeit, mit irgendeinem seiner Besucher unter vier Augen zu sprechen. Sein Sohn Wolf-Rüdiger bestätigte wiederholt auch im kleinen Kreis, er habe mit seinem Vater über das Wetter, die Gesundheit und die Enkel sprechen dürfen, über sonst nichts, vor allem nicht über die aktuelle Politik, und dies nur unter pausenloser Aufsicht. Ebenso war dem Anwalt von Heß, Alfred Seidl, dem späteren bayerischen Innenminister, nach eigenem Bekunden untersagt, mit seinem Mandanten über den ureigenen Fall zu sprechen. Auch ihm, dem Anwalt, war es nicht möglich, seinen Mandanten ohne Aufsicht zu sehen. Man hätte den Eindruck gewinnen können, Heß habe ein Geheimnis zu wahren, das an Gewicht der Weltformel gleichkomme. Das ging so bis zum Jahre 1987.

Damals war in Moskau Michael Gorbatschow im zweiten Jahr an der Macht und befasste sich kurz und nebenher mit dem Fall Heß, wobei er erkennen ließ, an ihm, Gorbatschow, und an der Sowjetunion liege es nicht, und soweit es Moskau angehe, könne Heß morgen freigelassen werden. Das war für die West-Alliierten eine peinliche Lage. Denn das über Jahrzehnte strikt aufrecht erhaltene Redeverbot des Häftlings konnte ja nur einen Zweck haben: dass er über die Hintergründe seiner Geschichte schweigt. Es stellt daher einen gravierenden Widerspruch dar, wenn die Alliierten einerseits das Schweigen von Heß erzwangen, andererseits aber behaupteten, sie entließen ihn gerne, wenn es denn möglich wäre. Doch ein Heß in Freiheit würde tun, was die Alliierten jahrzehntelag verhindert hatten: über seinen Fall sprechen. Da nun Gorbatschow nicht weiter auf der Haft bestand, war die Lage mit einem Mal sehr ernst, ernst in wahrhaft historischer Dimension.

Hier nun griff das Schicksal zugunsten der Westmächte ein, im speziellen zugunsten Großbritanniens. Heß, der sich nach über 40 Jahren Hoffnung machen durfte, seine letzte, knapp bemessene Lebenszeit im Kreise seiner Familie zu verbringen, griff, so die offizielle Erklärung, angesichts der ersehnten Freiheit trotz seiner Arthrose zum Kabel und hängte sich, ohne es aus dem Stecker zu ziehen, daran auf. Zeugen waren zwei Uniformierte, die man in Spandau nie zuvor und auch nicht mehr danach zu Gesicht bekommen hat.

All das lenkt die Aufmerksamkeit auf die Frage, worum es sich denn handle, was Heß für sich bewahren sollte. Auch hier helfen, um es wenigstens annähernd zu ergründen, Plausibilität und die Indiskretion der Geschichte, bei der manches durchdringt, war verborgen bleiben sollte.

Die Mission von Heß beruhte, unabhängig davon, ob mit dem Willen Hitlers oder gegen ihn, auf einer Tatsache und einem Irrtum. Tatsache war, dass es zu Beginn des Nationalsozialismus in Deutschland für diesen innerhalb der britischen Eliten bis hinein ins Königshaus manche Sympathien gab, welche jedoch bis 1941 durch die deutschen Fliegerbomben bleibenden Schaden nahmen. Daher als zweites Motiv des Rudolf Heß der Irrtum, dass sich Großbritannien in einem von Berlin so empfundenen Überschwang des Pangermanismus am Überfall der Nazis auf die Sowjetunion beteiligen würde. So also der wahrscheinliche Vorschlag: ein Separat-Frieden zwischen Groß-Deutschland und Großbritannien und dann, in einem Bruch des Hitler-Stalin-Paktes, der ge­-      meinsame Angriff auf sie Sowjetunion. Der zeitliche Zusammenhang macht diese Überlegung wahrscheinlich. Heß flog nur zwei Monate vor dem Unternehmen Barbarossa nach Schottland.

Man weiß, wie die Sache endete. Der britische Premier Winston Churchill liebte zwar die Kommunisten ebenso wenig wie die Nazis, aber auf ein derartiges Hazard-Stück, wie es Heß vorgeschlagen haben dürfte, ließ er sich denn doch nicht ein. Worin aber liegt das Geheimnis, das London so gerne gehütet sähe? Es ist eigentlich längst keines mehr: Die britische Regierung lehnte zwar den Vorschlag ab, den Heß überbracht hatte, sie unterließ es aber ebenfalls, Stalin vor dem geplanten Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion zu warnen. Hier kommt die Frage einer Mitschuld am Tod von über 20 Millionen Russen ins Spiel.

Wie auch immer – der pünktliche Tod von Rudolf Heß vor 30 Jahren hat Großbritannien davor bewahrt, dass ein überaus prominenter und gewichtiger Zeuge der Zeitgeschichte London die Deutungshoheit über diesen ganzen Zusammenhang aus der Hand genommen hätte. Es bleibt dabei, dass es die Sieger sind, welche die Geschichte schreiben.

(siehe auch Seite 11)