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11.08.17 / Die SED-»Opfer« von der Todesgrenze / Eine Farce bis in die Gegenwart – Der Politbüroprozess von 1997 gegen die Verantwortlichen des Schießbefehls an der Mauer

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 32-17 vom 11. August 2017

Die SED-»Opfer« von der Todesgrenze
Eine Farce bis in die Gegenwart – Der Politbüroprozess von 1997 gegen die Verantwortlichen des Schießbefehls an der Mauer
Klaus J. Groth

Vor 20 Jahren kamen im Politbüroprozess die Männer vor Gericht, die als Mitglieder der DDR-Machtzentrale den Schießbefehl an der innerdeutschen Grenze zu verantworten hatten.

Als am 25. August 1997 die Große Strafkammer des Berliner Landgerichts die Urteile sprach, saßen nur noch drei der ursprünglich sieben Angeklagten im Saal. Wegen Totschlags und Mitverantwortung für das Grenzregime der DDR erhielt Egon Krenz eine Freiheitsstrafe von sechseinhalb Jahren, Günter Schabowski und Günther Kleiber je drei Jahre. Schon in den vorangegangenen Prozessabschnitten, in denen seit dem Herbst 1992 die Todesschüsse juristisch aufgearbeitet wurden, konnte sich die Mehrheit der vorgeladenen DDR-Machthaber durch ein ärztliches Attest einer Verurteilung entziehen. 

Parallel dazu fanden vor einer anderen Kammer die Verhandlungen gegen die Todesschützen selbst statt, meist junge NVA-Soldaten. Als wahre Schuldige, als Täter hinter den Tätern, galten aber die, die den Schießbefehl gegeben hatten. Als Erster kam 

Erich Honecker vor Gericht. Wegen Totschlags und versuchten Totschlags erhielt er 15 Jahre Haft. Er musste seine Strafe aber nicht verbüßen. Aufgrund einer Krebserkrankung kam er frei und bestieg ein Flugzeug nach Santiago de Chile, wo seine Ehefrau Margot bereits auf ihn wartete.

Spuren der Reue zeigten wenige des DDR-Führungskaders, schuldig bekannte sich keiner. Sie verschanzten sich hinter der Aussage, nach DDR-Recht gehandelt zu haben, und erklärten die Gerichte der Bundesrepublik für nicht zuständig. Vor allem Egon Krenz, Nachfolger Honeckers im Amt des Staatsratsvorsitzenden und SED-Generalsekretärs zur Wendezeit, versuchte in jovial gehaltenen Monologen jede Schuld von sich zu weisen. Die Anklage gegen ehemalige DDR-Bürger bezeichnete er als „verfassungs- und völkerrechtswidrig.“ 

Wie alle Angeklagten leugnete Krenz die Existenz des Schießbefehls an die Grenztruppen, in dem es hieß: „Zögern Sie nicht mit der Anwendung der Schusswaffe, auch dann nicht, wenn die Grenzdurchbrüche mit Frauen und Kindern erfolgen, was sich die Verräter schon oft zunutze gemacht haben.“ Krenz beharrte: „Es hat einen Tötungsbefehl … nicht gegeben. Das weiß ich nicht aus Akten, das weiß ich aus eigenem Erleben. So ein Befehl hätte den Gesetzen der DDR auch widersprochen.“ Krenz bezog sich auf Dokumente, „Akten“, die bewiesen, dass Erich Honecker den rück­sichtslosen Gebrauch von Schusswaffen zu Sicherung der „Friedensgrenze“ gefordert hatte.

Der Schießbefehl war das letzte und grausamste Mittel der DDR-Oberen, den Exodus aus dem dahinsiechenden Arbeiter- und Bauernstaat zu stoppen. Wer sich durch Mauer und Grenzzaun nicht vor der Flucht in die Freiheit abschrecken ließ, sollte nicht nur mit Zuchthaus und Zwangsarbeit bestraft werden, sondern mit dem Tod rechnen müssen. Auf einer Lagebesprechung am 

20. September 1961 sagte Honecker in seiner Eigenschaft als Sicherheitssekretär des Zentralkomitees: „Gegen Verräter und Grenzverletzer ist die Schußwaffe anzuwenden. Es sind solche Maßnahmen zu treffen, dass Verbrecher in der 100-m-Sperrzone gestellt werden können.“ 

Im Grenzgesetz der DDR stand: „Die Anwendung der Schußwaffe ist gerechtfertigt, um die unmittelbar bevorstehende Ausführung oder die Fortsetzung einer Straftat zu verhindern, die sich den Umständen nach als ein Verbrechen darstellt.“

Von der Existenz eines Schießbefehls wusste jeder DDR-Bürger, aber das Politbüro leugnete ihn vehement. So wurde die Verantwortung pro forma in die Entscheidung jedes einzelnen der Grenzsoldaten gestellt. Mindestens 138 Menschen wurden von 1961 bis 1989 beim Fluchtversuch von Ost nach West erschossen. Den Befehl, der angeblich nie existierte, hob Erich Honecker am 

3. April 1989 persönlich auf. Die Sorge um das internationale Renommee der DDR und die Abhängigkeit von den wirtschaftlichen Wohltaten der Bundesrepublik waren die Gründe für diesen Sinneswandel.

Als einziges der Politbüromitglieder distanzierte sich Günter Schabowski von dem barbarischen Geschehen an der DDR-Grenze. Er sagte in einer halbstündigen Erklärung vor Gericht: „Als einstiger Anhänger und Protagonist dieser Weltanschauung empfinde ich Schuld und Schmach bei dem Gedanken an die an der Mauer Getöteten. Ich bitte die Angehörigen der Opfer um Verzeihung.“ 

Krenz sah sich hingegen selbst als Opfer, nämlich jenes der bundesdeutschen Justiz, und wandte sich mit einer Beschwerde an das Europäische Gericht für Menschrechte. Sein Antrag wurde 2001 abgelehnt. Alle drei Verurteilten fanden sich in der Vollzugsanstalt Hakenfelde in Berlin-Spandau wieder. 

Wirklich schmerzhaft war die Haft für sie eher nicht. Sie kamen nach kurzer Zeit in den offenen Vollzug. Krenz arbeitete bei der Flugzeugwerft Germania auf dem Flughafen Berlin-Tegel. Er sollte ausrangierte Flugzeuge an Russland verkaufen, in der berechtigten Annahme, dass er dorthin beste Kontakte hatte. Nach fast vier Jahren Haft kam er vorzeitig frei.

Schabowski, der auf einer Pressekonferenz am 9. November 1989 die Frage nach der Reisefreiheit mit den legendären Worten „Das trifft nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich“ beantwortet hatte, konnte das Gefängnis schon nach einem Jahr verlassen, ebenso Kleiber. Schabowski verdiente seinen Lebensunterhalt als Mitarbeiter eines hessischen Anzeigenblatts. Nach langer Krankheit starb er 2015 im Alter von 86 Jahren in einem Berliner Pflegeheim. 

Kleiber blieb arbeitslos und starb 2013 im Alter von 81 Jahren in Berlin. Krenz schrieb ein Buch über Honecker, unternahm Vortragsreisen ins Bruderland Kuba und war häufig Gast in TV-Talk­shows. Er lebt in Dierhagen, dem Ostseebad der DDR-Prominenz, wo er kürzlich seinen 80. Geburtstag feierte.

Über die Rechtmäßigkeit der Gerichtsverfahren gab es viele Kontroversen. Politiker der PDS und Angehörige des linken Spektrums sprachen von einer Fortsetzung des Kalten Kriegs. Familien der Opfer kritisierten die Strafen als viel zu milde.