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11.08.17 / Monumentales Werk / Die Literatur der Weimarer Zeit

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 32-17 vom 11. August 2017

Monumentales Werk
Die Literatur der Weimarer Zeit
Harald Tews

Es kommt selten vor, dass germanistische Sachbücher auch ein Gewinn für eine Leserschaft jenseits des akademischen Betriebs sind. Helmuth Kiesels „Geschichte der deutschen Literatur von 1918 bis 1933“ ist solch ein Ausnahmefall. Das Buch erweitert den Horizont für jeden, der sich auch nur einigermaßen für Kulturgeschichte interessiert.

In dem Opus summum steckt das gesamte Wissen eines Lebens. Es als „Lebenswerk“ zu bezeichnen, ist nicht übertrieben. Der emeritierte Heidelberger Literaturprofessor, der am 1. August seinen 70. Geburtstag feierte, hat sich seit Beginn seiner akademischen Karriere mit der Literatur der Wei­marer Republik auseinandergesetzt. Sein Säulenheiliger ist der „Berlin Alexanderplatz“-Autor Alfred Döblin, über den er sich habilitiert hat.

Die gesamte Erkenntnis aus fast einem halben Jahrhundert Forschungsarbeit hat sich in diesem monumentalen Werk von 1300 Seiten niedergeschlagen. Es wäre wohl noch umfangreicher ausgefallen, wären nicht zahleiche Passagen mit lehrreichen Exkursionen zu Autoren und Inhaltsangaben von Romanen in kleinformatiger Schrift abgedruckt.

Doch der Aufwand ist berechtigt, denn von der Novemberrevolution von 1918 bis Hitlers Machtergreifung erlebte die deutschsprachige Literatur, wie Kiesel zu Recht anmerkt, eine Glanzzeit. Die Aufbruchsstimmung der Jahre schlug sich in innovativen Werken der Moderne nieder, so in der Epik bei Thomas Mann und Robert Musil, im Drama bei Karl Kraus und Bertolt Brecht oder in der Lyrik bei Rainer Maria Rilke und Stefan

George.

Aber auch die von politischer Instabilität und wirtschaftlicher Ausweglosigkeit geprägte Krisenzeit spiegelte sich in einer ganzen Reihe von Werken kommunistischer wie nationalkonservativer Autoren. Kiesel stellt dabei heute unbekannte „Arbeiterdichter“ wie Alfons Petzold, Paul Zech oder Karl Bröger ebenso vor wie auch „nationalistisch-bellizistische“ Autoren wie Werner Beumelburg oder Franz Schauwecker. 

Das Erfreuliche dabei ist, dass Kiesel nicht den Oberschiedsrichter gibt. Er fällt kein Urteil über die Autoren, die sich in den Dienst irgendeiner Ideologie gestellt haben. Er stellt sie stattdessen gleichberechtigt in eine Linie mit den Autoren, die sich – wie Hermann Hesse – in der Rezeptionsgeschichte zu den Heroen jener Zeit herausgeschält haben.

Entgegen der Erwartung, dass die Literatur der Weimarer Zeit ein Vorgriff auf den Nationalsozialismus sei, erinnert Kiesel daran, dass die Dichter damals in erster Linie Nachkriegsautoren waren, welche in ihren Werken den Ersten Weltkrieg verarbeitet haben. Dass sie alle Töchter und Söhne ihrer Zeit waren, zeigt Kiesel daran, dass er in seinem Buch das gesamte Panorama der Weimarer Zeit entfaltet. Das macht seine Literaturgeschichte zu einer einzigartigen Soziokulturgeschichte. 

Durch ein umfangreiches Register kann man Kiesels Buch auch wie ein Nachschlagewerk nutzen. Döblin hat dabei mit die meisten Einträge, fast scheint es, als sei diese Literaturgeschichte um ihn herum gebaut. Ein Kafka-Experte ist Kiesel wohl weniger. Schade, denn dieser Autor spielt bei ihm fast keine Rolle. Wenn das das einzige Haar in der Suppe ist, dann sei es diesem phänomenalen Werk verziehen.

Helmuth Kiesel: „Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1918 bis 1933“, C.H. Beck Verlag, München 2017, gebunden, 1304 Seiten, 58 Euro