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08.09.17 / Zensurmaßnahmen / In Kassel ist der umstrittene »Parthenon der Bücher« fast vollendet

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 36-17 vom 08. September 2017

Zensurmaßnahmen
In Kassel ist der umstrittene »Parthenon der Bücher« fast vollendet
Veit-Mario Thiede

Eine Besucherin der Kasseler documenta ruft aus, was viele denken: „Gut gell, einfach gut!“ Sie ist vom „Parthenon der Bücher“ begeistert, den die argentinische Künstlerin Marta Minujin auf dem Friedrichsplatz errichten ließ. Die vom Parthenon-Tempel auf der Athener Akropolis inspirierte Installation besteht aus einem Stahlskelett, an dem in Klarsichtfolie verpackte Buchspenden hängen. Als die documenta im Juni er­öffnet wurde, litt der Tempel unter akutem Schriftenmangel. Doch nun steht er vor der Vollendung.

Verlage, Buchhändler und Privatpersonen stifteten die für den Bau verwendeten Schriften. Dem Aufruf der documenta-Leitung zufolge muss es sich um Bücher handeln, die irgendwann einmal verboten waren oder es noch heute ir­gendwo in der Welt sind. Den mit ihnen errichteten Parthenon der Bücher erklärt die documenta zum Monument der Meinungsfreiheit und Demokratie. Es sollte aus 100000 Büchern erbaut werden. Die Realität sieht anders aus: Die Organisatoren haben den Abstand zwischen den Büchern so weit vergrößert, dass 55000 verbotene Schriften ausreichen. Wenn noch 1500 Bücher gespendet werden, ist das Werk vollbracht.

Was ist denn bislang so gespendet worden? Spitzenreiter sind Goethes „Leiden des jungen Werthers“. Wir entdecken Karl Mays „Durch die Wüste“ und Tolstois „Krieg und Frieden“, Micky-Maus-Hefte, die Bibel und Schriften von Karl Marx. Viele Spender haben sich vom „Kleinen Prinz“ oder Werken Bert Brechts, Franz Kafkas, Friedrich Schillers und etlicher weiteren Autoren mit Weltgeltung getrennt. Waren und sind also die staatlichen und kirchlichen Zensoren nichts an­deres als Literaturbanausen? Ist das aus politischen, religiösen oder sittlichen Gründen ausgesprochene Verbot von Schriften stets blanker Unsinn?

Die documenta bewirbt das Werk als „Zeichen gegen das Verbot von Texten und die Verfolgung ihrer Verfasserinnen und Verfasser“. Aber nicht jedes verbotene Buch findet Gnade. Die Künstlerin Marta Minujin hat gut nachvollziehbare, aber eigenmächtige „Zensurregeln“ aufgestellt. Sie verbietet gewaltverherrlichende, rassistische, rechtsradikale und pornografische Schriften. 

Die Begutachtung der Spenden obliegt der von Studenten unterstützten Kasseler Germanistikprofessorin Nikola Roßbach. Ge­nau achtet sie auch darauf, Schriften auszusondern, die der deutsche Index der verbotenen Medien auflistet. Er dient etwa dem Jugendschutz und dem Schutz vor An­griffen auf die freiheitlich demokratische Grundordnung. 

Die Praxis der Zulassung zum Parthenon erweist also, dass die documenta zwischen „berechtigten“ und „unberechtigten“ Bü­cherverboten unterscheidet. Roßbach kommentiert: „Jede Gesellschaft gibt sich eine gesetzliche Ordnung, wenn Handlungen, zum Beispiel Beleidigungen, Volksverhetzung, dieser widersprechen, sanktioniert die Gesellschaft den Akteur oder die Akteurin. Das gilt auch in den ,freiesten‘ Gesellschaften, zu denen wir uns zählen dürfen.“