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08.09.17 / Vertane Chancen, problematische Urteile / Hoch ist das Ansehen des Verfassungsgerichtes – zumindest in den Sonntagsreden der Politiker. Ein kritischer Blick nach Karlsruhe

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 36-17 vom 08. September 2017

Vertane Chancen, problematische Urteile
Hoch ist das Ansehen des Verfassungsgerichtes – zumindest in den Sonntagsreden der Politiker. Ein kritischer Blick nach Karlsruhe
Dirk Pelster

Ist der hohe Numerus Clausus für Medizinstudenten gerechtfertigt? Darf ein Nachrichtenmagazin auf Straftaten eines Menschen hinweisen, die Jahrzehnte zurückliegen? Dürfen Beamte streiken? Dies sind nur einige Fragen, die für Deutschlands höchstes Gericht derzeit auf der Tagesordnung stehen. In der Theorie heißt es, „das Bundesverfassungsgericht wacht über die Einhaltung des Grundgesetzes“. In der Praxis gebärden sich dessen Mitglieder aber oft als eine Art Überpolitiker. Viele Chancen, Deutschland positiv zu gestalten, bleiben gleichzeitig ungenutzt.

Der jüngst verstorbene ehemalige Kanzleramtsminister Horst Ehmke nannte sie einmal „die acht Arschlöcher von Karlsruhe“. Sein Parteifreund und SPD-Fraktionsvorsitzende Herbert Wehner kam zu einem gleichlautenden Urteil. Diese bemerkenswert offene Einschätzung zu den obersten Hütern des Grundgesetzes stellt sich jedoch zumindest in Bezug auf ihre Anzahl als fehlerhaft heraus. Tatsächlich besteht das Bundesverfassungsgericht nämlich aus sechzehn Richtern, die sich jeweils zur Hälfte auf zwei Senate mit unterschiedlicher Zuständigkeit aufteilen. Aber auch der recht drastischen Charakterisierung durch die beiden sozialdemokratischen Urgesteine mochten sich in der fast 66-jährigen Geschichte des Gerichtes nur wenige politische und juristische Beobachter anschließen. Allgemein gilt dieses im Karlsruher Schlossbezirk residierende oberste Staatsorgan den meisten Bürgern nach wie vor als Garant des Grundrechtsschutzes.

Obwohl die Verfassungsrichter mit ihren Beschlüssen durchaus das ein oder andere Vorhaben bundesdeutscher Politiker zunichte gemacht haben, werden auch diese nicht müde, die hohe Bedeutung des Gerichtes in ihren Sonntagsreden zu beschwören. Verwundern kann das nicht, denn immerhin werden die Richterämter schließlich durch eben jene politischen Verantwortungsträger besetzt. Nicht selten greift man dabei auf bewährtes parteipolitisches Personal zurück. So ist derzeit etwa der ehemalige saarländische Ministerpräsident Peter Müller (CDU) Mitglied des Zweiten Senats des Verfassungsgerichtes. Ähnlich wie Müller führen rund die Hälfte der Richter den Mitgliedsausweis einer etablierten Partei unter ihrer Robe mit sich. 

Aber auch zeitgeistige Merkmale kommen zunehmend bei der Auswahl der Aspiranten zum Tragen. Besonderen Belang haben etwa das Geschlecht und die sexuelle Orientierung. Mit der Berufung von Susanne Baer ist es 2011 gelungen, nicht nur den Anteil weiblicher Richter zu steigern, erstmals ist mit der langjährigen Direktorin eines Gender-Kompetenz-Zentrums auch eine bekennende Homosexuelle nach Karlsruhe berufen worden. 

Ausgewählt werden Deutschlands oberste Richter je zur Hälfte durch den Bundesrat und durch den Bundestag. Da das politische System der Bundesrepublik Deutschland, anders als in vielen anderen westlich geprägten Staaten, nur wenig strukturelle Gewaltenteilung kennt, kommen zumeist nur solche Kandidaten zum Zuge, die von der jeweiligen Bundesregierung oder der Mehrheit der Landesregierungen favorisiert werden. Wegen des hohen Quorums von einer Zweidrittel-Mehrheit, die bei der Wahl erforderlich ist, werden zwischen den Parteien regelmäßig entsprechende Absprachen getroffen. Eine gewisse Unabhängigkeit der Richter vom politischen Betrieb wird überhaupt nur dadurch gewährleistet, dass diese über die Dauer von zwölf Jahren berufen werden und eine weitere Verlängerung der Amtsdauer gesetzlich ausgeschlossen ist.

Einstellungsvoraussetzung für das hochangesehene Amt im 1966 errichteten Baumgarten-Bau im Karlsruher Schlossbezirk ist die Befähigung zum Richteramt. Man erhält sie üblicherweise mit dem Bestehen des Zweiten Juristischen Staatsexamens. Eine Ausnahme gilt für Hochschullehrer der rechtswissenschaftlichen Fakultät einer Universität. Diese können in das Verfassungsgericht berufen werden, wenn sie nur die Erste Juristische Staatsprüfung abgelegt haben. 

Soweit spätere Verfassungsrichter sich vor ihrem Amtsantritt nennenswert an rechtswissenschaftlichen Diskursen beteiligt haben, fällt auf, dass sie zumeist Positionen vertreten, die sich im Widerspruch zur ansonsten vorherrschenden Rechtslehre befinden. So plädierte etwa die damalige Berliner Justizsenatorin und spätere Verfassungsgerichtspräsidentin Jutta Limbach (SPD) dafür, einzelne im Deutschen Reich und in der DDR geltende Rechtsvorschriften im Nachhinein als für von Anfang an nichtig zu erklären. Damit sollte es möglich werden,  Angehörige der DDR-Grenztruppen sowie Beamte und Soldaten des Dritten Reiches der Strafverfolgung zuzuführen. Zurückgreifen konnte Limbach auf die von ihrem Parteifreund Gustav Radbruch 1946 entwickelte sogenannte Radbruch’sche Formel. Nach dieser darf ein Gesetz immer nur dann Geltung für sich beanspruchen, wenn es auch in einem höheren Sinne moralisch gerecht ist und vor allem, wenn es den Grundsatz der Gleichheit aller Menschen berücksichtigt. Ob dies der Fall ist, entscheidet sich naturgemäß nicht sofort, sondern ein solches Urteil fällt dann ein Richter Jahrzehnte später und möglicherweise in einem ganz anderen politischen System. Damit sind der Willkür natürlich Tür und Tor geöffnet.  

Problematisch sind nicht wenige Entscheidungen der Verfassungsrichter. Schon früh vollzog man eine erste Abkehr vom klassischen liberalen Grundrechtsverständnis. Grundrechte sollten nicht mehr nur Bürger gegenüber dem Staat geltend machen können, sondern sie sollten auch zwischen Privaten Rechtswirkung entfalten. Begründet wurde dies damit, dass das Grundgesetz nicht nur bestimmte Rechte garantiere, sondern auch eine objektive Werteordnung statuiere, die in alle Bereiche des Rechtslebens hineinwirke. In der Praxis hat dies beispielsweise dazu geführt, dass ein Eigentümer einem ausländischen Mieter nicht ohne Weiteres untersagen darf, eigenmächtig eine Satellitenschüssel an der Fassade seines Hauses zu montieren. Der Mieter kann nämlich auch gegenüber seinem Vermieter ein Recht auf Informationsfreiheit geltend machen, wenn er sich via Satellitenfernsehen über die Geschehnisse in seiner alten Heimat auf dem Laufenden halten möchte. Was zuvor zwischen beiden Parteien im Mietvertrag vereinbart worden war, zählt dann plötzlich nicht mehr.

Auch an anderer Stelle hat sich das Postulat einer Werteordnung nachteilig ausgewirkt. Im Jahr 2009 stellten die Richter im Rahmen eines Verfassungsbeschwerdeverfahrens fest, dass Teile des Straftatbestandes der Volksverhetzung zwar klassisches Sonderrecht darstelle, welches lediglich dazu diene, die Meinungsäußerungsfreiheit bestimmter politischer Kreise zu beschneiden, gleichwohl erachteten sie dies ausnahmsweise als zulässig. Das Grundgesetz, so das Diktum aus Karlsruhe, sei ein ausdrücklicher Gegenentwurf zum Regime des Nationalsozialismus. Personen, die im Verdacht stehen, den historischen Nationalsozialismus gutzuheißen oder auch nur einzelne Maßnahmen dieses Regimes zu billigen, können sich demzufolge nicht mehr auf das Recht auf freie Meinungsäußerung berufen. Theoretisch kann damit heute schon die Forderung nach einer Wiederauflage des staatlichen Autobahnbauprogrammes der 30er Jahre für eine Verurteilung vor einem deutschen Strafgericht ausreichend sein.

Wie die übrigen politischen Funktionseliten dieses Landes, so haben auch die Richter des Bundesverfassungsgerichtes wesentliche Chancen vertan, die Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem normalen demokratischen Rechtsstaat weiterzuentwickeln. Anstatt an der Wiederherstellung der staatlichen Souveränität  Deutschlands mitzuwirken, haben die Verfassungsrichter jeden weiteren Schritt der politischen Klasse in Richtung eines europäischen Superstaates mit nur kleineren Korrekturen gebilligt. Anstatt die Verfassungsordnung klar in die rechtsstaatlichen Traditionslinien der europäischen Aufklärung zu stellen, blieb es in Berlin und Karlsruhe bei dem politischen Selbstverständnis, dass die Bundesrepublik nicht mehr sein darf als die bloße Verneinung des Dritten Reiches.