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15.09.17 / Ein Medikament bewirkte Tausende Missbildungen / Vor 60 Jahren kam Contergan auf den Markt, das für den größten Medizin-Skandal in der deutschen Geschichte sorgte

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 37-17 vom 15. September 2017

Ein Medikament bewirkte Tausende Missbildungen
Vor 60 Jahren kam Contergan auf den Markt, das für den größten Medizin-Skandal in der deutschen Geschichte sorgte
Wolfgang Kaufmann

Nach der Einnahme des Schlaf- und Beruhigungsmittels Contergan brachten Frauen in der Bundesrepublik und anderswo Tausende schwer geschädigte Kinder auf die Welt, deren Situation auch heute – im höheren Erwachsenenalter – immer noch äußerst prekär ist. Trotzdem wird der Contergan-Wirkstoff Thalidomid weiterhin eingesetzt.

Im März 1954 synthetisierten Wilhelm Kunz, Herbert Keller und Heinrich Mückter von der Forschungsabteilung des Pharmaunternehmens Chemie Grünenthal GmbH in Stolberg bei Aachen eine Substanz namens Thalidomid. Diese erwies sich im Tierversuch als beruhigend beziehungsweise schlaffördernd, zeigte keine ersichtlichen Nebenwirkungen, und toxisch war sie offenbar auch nicht. Damit schien eine hervorragende Alternative zu den bisher verwendeten, schwierig zu handhabenden bromhaltigen Beruhigungsmitteln gefunden zu sein.

Grünenthal vertrieb die Neuentwicklung ab dem 1. Oktober 1957 unter dem Handelsnamen „Contergan“ zuerst in der Bundesrepublik Deutschland und dann in 46 weiteren Staaten. Aufgrund seiner angeblichen Ungefährlichkeit galt das rezeptfrei zu erhaltende Contergan als das „Schlafmittel des Jahrhunderts“. Besonders nachdrücklich empfohlen wurde es dabei Frauen, die ein Kind erwarteten, weil die Einnahme nebenher noch die morgendliche Übelkeit dämpfte. Allerdings verursachte Thalidomid – sofern in den ersten drei Monaten der Schwangerschaft eingenommen – auch schwere Missbildungen oder gar das völligen Fehlen von Gliedmaßen beim Fötus. Diese fatale Nebenwirkung blieb jedoch zunächst unerkannt.

Verantwortlich hierfür war die mangelhafte zentrale Erfassung von Missbildungen bei Neugeborenen. Die Bundesrepublik zögerte nämlich, ein entsprechendes Meldewesen zu etablieren, weil das an die Praxis der Nationalsozialisten erinnerte, die Behinderte zuerst registriert und dann im Rahmen der Euthanasie-Aktion T4 ermordet hatten. Und als man die wachsende Zahl geschädigter Neugeborener beim besten Willen nicht mehr übersehen konnte, wurde diese auf Atomwaffentests zurückgeführt, oder die Experten vermuteten genetische Ursachen beziehungsweise ein Fehlverhalten der Mütter.

Des Rätsels Lösung fanden schließlich unabhängig voreinander der Hamburger Mediziner Widukind Lenz und dessen australischer Fachkollege William Griffith McBride. Ersterer wandte sich zunächst direkt an Heinrich Mück­ter von der Firma Grünenthal und machte dann am 19. November 1961 auf dem Jahreskongress der Vereinigung der Rheinisch-Westfälischen Kinderärzte in Düsseldorf seine Untersuchungsergebnisse öffentlich, weil das Pharmaunternehmen nicht auf Warnungen sowie die mittlerweile schon 1600 eingegangenen Hinweise auf Fehlbildungen reagierte: „Die sofortige Zurückziehung des Mittels ist erforderlich. Jeder Monat Verzögerung bedeutet die Geburt von 50 bis 100 entsetzlich verstümmelten Kindern.“

Den Vortrag von Lenz hörte auch ein Redakteur der „Welt am Sonntag“. Danach titelte diese am 26. November 1961: „Missgeburten durch Tabletten? Alarmierender Verdacht eines Arztes gegen ein weitverbreitetes Medikament.“ Daraufhin nahm Grünenthal das inzwischen schon millionenfach verkaufte Contergan über Nacht vom Markt.

Bis dahin waren etwa 10000 Kin­der mit Schäden an Armen und Beinen, Augen und Ohren, den inneren Organen und Genitalien auf die Welt gekommen – 7000 davon wahrscheinlich allein in der Bundesrepublik. Weitere Opfer wurden aus etwa 40 Ländern rund um den Globus gemeldet. Dabei fielen die Schäden häufig so schwer aus, dass etwa die Hälfte der Betroffenen bereits im Säuglingsalter verstarb. Deshalb leben in der Bundesrepublik mittlerweile auch nur noch knapp 2400 Contergan-„Kinder“.

Da Grünenthal die alarmierenden Berichte über Missbildungen zunächst vollkommen ignoriert hatte und dann teilweise mit unlauteren Mitteln zu unterdrücken versuchte, mussten sich neun führende Mitarbeiter des Pharmaunternehmens vor der 1. Großen Strafkammer des Landgerichts Aachen wegen vorsätzlicher Körperverletzung und fahrlässiger Tötung verantworten. Der Prozess, bei dem 312 Geschädigte als Nebenkläger auftraten, endete am 18. Dezember 1970 nach 283 Verhandlungstagen mit der Einstellung des Verfahrens wegen „geringfügiger Schuld“ der Angeklagten sowie angeblich „mangelnden öffentlichen Interesses“.

Dem vorausgegangen war ein Vergleich, den die Eltern der Betroffenen mit Grünenthal geschlossen hatten, um nicht vielleicht am Ende völlig leer auszugehen. Das Unternehmen verpflichtete sich, 100 Millionen D-Mark Entschädigung zu zahlen. Allerdings reichte diese Summe, die später einmalig um weitere 50 Millionen aufgestockt wurde, in keiner Weise aus, um das verursachte Leid nachhaltig zu mindern. Daher kommt heute der deutsche Steuerzahler für die Renten der Contergan-Opfer auf, obwohl Grünenthal inzwischen Jahresumsätze im Milliardenbereich erzielt. 2013 wurden die Unterhaltsleistungen durch einen Beschluss des Bundestages versechsfacht, sodass die am schwersten Betroffenen nun bis zu 6912 Euro pro Monat erhalten. Das klingt viel, ist aber im Hinblick auf die speziellen Probleme von Contergan-Geschädigten bitter nötig.

Zwar fanden sie zunächst vielfach durch enorme Eigenanstrengungen den Weg ins berufliche und soziale Leben. So liegt ihre Quote bei den Hochschulabschlüssen deutlich über dem Durchschnitt der Gesamtbevölkerung. Erinnert sei auch an Thomas Quasthoff, der zum gefeierten Opernsänger und Professor an der Berliner Hochschule für Musik avancierte. Allerdings leiden viele Contergan-Opfer jetzt unter den Folgen der jahrzehntelangen extremen Fehlbelastungen von Bändern, Muskeln und Gelenken. Deswegen sind sie in zunehmendem Maße auf fremde Hilfe angewiesen. 

Ansonsten war die Karriere von Thalidomid mit dem Skandal keineswegs vorbei, denn es eignet sich hervorragend zur Behandlung von Lepra und Krebs, da es eben nicht nur das Wachstum der Gliedmaßen beim Fötus hemmt, sondern auch von Blutgefäßen, die bösartige Wucherungen versorgen. Unglücklicherweise führte der Einsatz von Thalidomid in Brasilien bei der Bekämpfung der Lepra aber zu einer neuen Welle von Missbildungen bei Neugeborenen, weil Analphabetinnen das Warnpiktogramm auf der Pak-kung, das eine durchgestrichene Schwangere zeigte, als Hinweis darauf verstanden, dass es sich hier um Antibabypillen handele.