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15.09.17 / »Trinkgeld« – Eine umstrittene Sitte / Heute in einigen Berufszweigen verboten, war es für Dienstleister von jeher ein willkommenes Zusatzeinkommen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 37-17 vom 15. September 2017

»Trinkgeld« – Eine umstrittene Sitte
Heute in einigen Berufszweigen verboten, war es für Dienstleister von jeher ein willkommenes Zusatzeinkommen
Wolf Oschlies

Die Sitte, ein Trinkgeld als zusätzliches Bonbon für geleistete Dienste zu geben, gibt es seit anderthalb Jahrtausenden. In einigen Branchen werden dabei hohe Umsätze erzielt.

Stimmt so! Rest für Sie“ – Der Münchner Müllmann Andreas H. wurde 2014 fristlos entlassen, weil er Trinkgeld annahm. Das ist seit 2010 amtlich verboten, auch Trinkgeldgeber machen sich strafbar. Ähnlich kleinlich gab sich die Stadt Köln, als sie per „Korruptionsbekämpfungsgesetz“ das Nehmen und Geben von Trinkgeldern zum Jahreswechsel, seit jeher als „Neujährchen“ gern geübter Brauch, untersagte. Da lobt man sich doch die Sparschweinchen, die in neun von zehn Arztpraxen und Kliniken stehen und auf „Fütterung“ von Patienten warten. Oder die „Troncs“ (Rumpf) in Spiel-Casinos, in die Gewinner etwa drei Prozent ihres Gewinns werfen – „pour les employées“. Hatte etwa Rudolf von Ihering recht, als er 1882 rügte: „Das Trinkgeldwesen ist in meinen Augen eine durch die Sitte organsirte  Bettelei“  

Bettelei? Seit anderthalb Jahrtausenden kennt man den „Geldbetrag, den ein Dritter ohne rechtliche Verpflichtung dem Arbeitnehmer zusätzlich zu der geschuldeten Arbeitsleistung zahlt“, wie es die „Gewerbeordnung“ von 2005 definiert. Als „Botengeld“ taucht es schon im Nibelungenlied auf, in seiner heutigen Benennung entdeckten es die Gebrüder Grimm im 14. Jahrhundert, etwa in einer Bestimmung von 1344, dass Totengräber jedermann bestatten sollten, „one alles trinkgelte“.

Das erlangte urdeutsche Prägung, da „ein mann umb trickgelt pflegt zu bitten, es sind noch teutsche sitten“. Mehr noch: Es errang internationale Gültigkeit, wie sonst nur noch der türkisch-persische „Bakschisch“. Das deutsche „Trinkgeld“ ging in Fremdsprachen ein, direkt wie altfranzösisch „tringuelte“ oder als sinngetreue Übertragung (Calque) wie beim mittellateinischen „bibales“ (von „bibere“ trinken), neufranzösisch „pourboire“ oder tschechisch „propitne“, was alles „fürs Trinken“ bedeutet. Aus dieser Reihe fällt nur das englische „tip“, das seit dem 16. Jahrhundert für „to insure promptitude“ (um Schnelligkeit sicherzustellen) steht. 

Schon der klassische „Simplizissimus“ rühmte: Die „von Adel verehreten mich desto ehrlicher mit einem guten Trinkgeld“. Im 18. Jahrhundert grassierte das „Trinkgeldunwesen“, vor allem in deutschen und britischen Schlössern, Museen und Bibliotheken: Bedienstete forderten in erpresserischer Direktheit Bakschisch ein, dabei Listen präsentierend, wie großzügig angeblich frühere Besucher gewesen seien. Auf Landsitzen wurden Bälle arrangiert, bei denen Geld „für die Bediensteten“ gesammelt wurde, das der klamme Hausherr einstrich. Dagegen befahl der preußische König die Einrichtung von Sammelkassen, damit fürs Personal wirklich etwas abfiel.

Heute erlebt das Trinkgeld hohe Umsätze, in den USA über 

20 Milliarden Dollar jährlich. Wir sollten bei Kreuzfahrten 300 Euro für „Trinkgeld“ einplanen. Kurt Tucholskys legendärer „trinkgeldlüsterner Bademeister“ ist in Österreichs Bädern trotz Verbots wieder präsent, und die angebliche Trinkgeld-Abstinenz chinesischer und japanischer Kellner hat sich längst als Märchen erwiesen. Generell kennen Touristikexperten ein trinkgeldliches Nord-Süd-Gefälle: Zurückhaltend in Skandinavien und Frankreich, unverschämt in Griechenland und Nordafrika, abzockerisch in der Schweiz und Italien, wo es automatisch in Rechnungen erscheint, fair in Deutschland, wo Trinkgeld als freiwilliges Dankeschön von etwa fünf Prozent des Rechnungsbetrags üblich ist. Fast überall gilt, dass man bei Kartenzahlung Trinkgelder extra und in bar abdrückt, damit es nicht bei gierigen Chefs landet.  

Trinkgeld kann rufschädigend sein, zum Beispiel für Berlin, das als geizigste unter den deutschen Städten gilt. Bei Menschen spiegeln Trinkgelder Charaktere: „Sparsam bis zum Geiz“ war Walter Hallstein, 1958 Präsident der EWG-Kommission, der bei 

8730 D-Mark Mo-natsgehalt nicht nur nie Trinkgeld gab, vielmehr seine Brüsseler Mitarbeiter ungeniert anpumpte. Berüchtigte Geizhälse sind derzeit die Modedesignerin Victoria Beckham, Ehefrau des Fußballers David Beckham, oder Hollywood-Stern Harrison Ford, Jahrgang 1942, der beim Bezahlen eisern „Seniorenrabatt“ verlangt. Anders die dick-liche Komikerin Amy Schumer, die im März 2016 zu einer New Yorker Restaurantrechnung von 77 Dollar einen „Riesen“ (1000 Dollar) zulegte. Die undankbaren Kellner stellten die protzige Quittung ins Internet. 

Bis ins 19. Jahrhundert war das Trinkgeld in Sprichwörtern relativ häufig vertreten, manchmal durchaus witzig: „Erst das Kind sehen, bevor man der Hebeamme Trinkgeld gibt“ oder: „Fromme Sprüche sind das Trinkgeld von Pfaffen“. Dann wieder als Drohung wie bei Johann Chr. Gottsched : „ich wills gewiszlich noch erleben / der henker wird dirs trinkgeld geben“. Als mit steigenden Einkommen das Trinkgeld nicht mehr „zweiter Lohn“ sein musste, stand es für Schäbigkeit, etwa bei Heinreich Heine: „Das Volk von Paris hat die Welt befreit und nicht mal ein Trinkgeld dafür bekommen“. Berühmt war Otto von Bismarcks Zorn auf „Trinkgeldpolitik“, schöne Reden und dürre „Hilfen“, die letztlich nichts einbrachten.

Trinkgeld rollt immer und überall – als Dank für guten Service, als Erinnerungshilfe („fürs Wiederkommen“), als kleine Auszeichnung (für Papierkorbleerer im ICE) oder liebenswerte Korruption, wenn auf dem Werkhof (Köln: „Is’ zwar kostenpflichtig, ävver schmieß dat do erin!“) oder sonstwo Regeln großzügig auszulegen sind. Beamten ist es untersagt, Arbeitnehmern im öffentlichen Dienst sind Geschenke bis zum Wert von 14 Euro erlaubt. Bei Taxifahrern genügt ein Aufrunden des Fahrpreises. Friseure oder Paketboten belohnt man nach der Arbeit, Pannenhelfer, Monteure und andere davor, Handwerker mittendrin, bevor sie zur Mittagspause gehen. Trinkgeld übergibt man im Händedruck versteckt, mit einer launigen („für’s Feiera-bendbier“) oder freundlicher Empfehlung („für deine Kinder“). Statt Münzen gebe man Papiergeld, lasst den Heiermann knistern! Oder grüne Dollars bei Russen, die ihn mehr als Rubel und Euro schätzen. Trinkgeld soll beiderseits Spaß bereiten, zumal hierzulande ja nicht die New Yorker Regel gilt: „Geben Sie Trinkgeld, als wären Sie Sinatra“.