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22.09.17 / Als käme er gleich um die Ecke / Gekonnt inszeniert die Lutherstadt Wittenberg die großen Geister der Reformation – und sich selbst

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 38-17 vom 22. September 2017

Als käme er gleich um die Ecke
Gekonnt inszeniert die Lutherstadt Wittenberg die großen Geister der Reformation – und sich selbst
Silvia Friedrich

Die Stadt, in der Luthers Reformation ihren Anfang nahm, strahlt und glänzt. Ein Streifzug durch Wittenberg.

Ob er sie wirklich an die Tür der Schlosskirche genagelt hat, ist in Fachkreisen umstritten. Augenzeugen gibt es nicht. Auch, wenn Luthers Mitstreiter Philipp Melanchthon in einem Vorwort zu Luthers Werken 1546 schrieb: „Und diese schlug er öffentlich an der Kirche neben dem Schloss an am Vorabend des Festes Allerheiligen im Jahr 1517.“ Melanchthon hat es jedoch nicht selbst gesehen. Er war zu dem Zeitpunkt gar nicht in der Stadt. So bleibt es eine Legende. Die einen befürworten den Thesenanschlag mit der Mutmaßung, man habe zu der Zeit häufig wichtige Dinge an Kirchentüren geheftet. Für alle anderen bleibt es eine Behauptung aus dem Reich der Phantasie.

Wittenberg begrüßt seine Gäste freundlich. Wenn man aus dem Zug klettert, schreitet man an einem im Jahre 2016 neu eröffneten Bahnhofsgebäude vorbei und staunt über den sogenannten Grünen Bahnhof. Diese Bezeichnung nutzt die Deutsche Bahn für eine neue Generation von Bahnhofsgebäuden, die sich selbst mit Energie versorgen sollen. Die Baustoffe stammen überwiegend aus der Region, der verwendete Beton wurde CO2-neutral produziert. 

Auch der eigens für das Reformationsjubiläum angelegte Lutherpark in der Nähe der Schlosskirche stimmt einnehmend. Stehen hier doch etliche von insgesamt 500 in der Stadt verteilten, neu gepflanzten Bäumchen aus aller Welt zum Zeichen einer hier und jetzt versöhnten Vielfalt unter den Menschen. Und natürlich fallen einem sofort die grünbackigen Äpfel auf, die noch nicht ganz reif an Bäumchen baumeln. Ganz im Sinne des großen Reformators, der diese pflanzen wollte, selbst, wenn die Welt morgen unterginge. Leider ist auch dieses Zitat nicht nachweisbar. 

Endlich steht man vor der prunkvollen Schlosskirche, deren Turm einige Touristen für einen Wasserturm halten. Zylindrisch, 88 Meter hoch erhebt er sich aus der Stadtsilhouette. Wer näherkommt, erkennt das aus Mosaiksteinen erstellte Band in metergroßen Lettern „Ein feste Burg ist unser Gott, ein gute Wehr und Waffen“.

In der Schlosskirche Gewusel wie im Petersdom in Rom. Menschen aus aller Herren Länder schieben sich durch die Gänge. Und das an einem schlichten Werktag im Juli. Busladungen von Touristen ergießen sich in diese Kirche der Reformation und lauschen andächtig den jeweiligen Gruppenleitern. Eine Dame aus Philadelphia heißt an der Tür alle Menschen willkommen. Ihr Lächeln ist so perfekt wie ihre Deutschkenntnisse. Sie strahlt jeden an und entlässt alle Gäste mit einem freundlichen „Jesus bless you, Jesus segne dich“.

Die Stadt atmet Mittelalter und natürlich Renaissance. Dem konnten selbst das Zeitalter der Aufklärung und 40 Jahre DDR nichts anhaben. Belege finden sich immer wieder in Gebäuden, Treppen, alten Türschlössern und Hinterhöfen. Gleich links vor der ehrwürdigen Schlosskirche macht ein Flammkuchenbäcker das Geschäft seines Lebens. Beinahe minütlich gehen die Speckkuchen aus dem Elsass über die kleine Theke seiner Bude. Statt Ablässe gegen die Flammenhölle werden hier schmackhafte Flammkuchen an Deutsche, Finnen, Norweger, Amerikaner, Dänen, Holländer und Polen verkauft. Buntes Markttreiben überall. An manchen Stellen entsteht der Eindruck, man befände sich im Süddeutschen. Die Gassen haben Charme, was besonders auch an den seit 2002 wieder eröffneten, mit Blumenkästen geschmückten historischen Stadtbächlein liegt. Erinnerungen an die Freiburger Stadtbächle werden wach – und das in Sachsen-Anhalt. Wittenberg ist anders. Wer noch immer Relikte des Sozialismus erwartet, wird angenehm enttäuscht werden. Die Überbleibsel einer untergegangenen Gesellschaftsform sind rar geworden. Nur noch zu finden in der versteckt liegenden Gaststätte, deren Inhaber die Wende scheinbar verschlafen hat oder im Gesicht einer Kellnerin, das bei Gastanfragen blass wird, ganz als ob sie von der anderen Weltordnung überfordert wäre. 

Doch derlei ist selten und kaum noch spürbar. Die Menschen, die unter bunten Sonnenschirmen auf den Straßen hocken, genießen den Besuch in der Stadt und scheinen für die Zeit ihrer Essenspause das große Reformationsjubiläum vergessen zu haben. Gleich danach geht es in die große Nationale Sonderausstellung „Luther! 95 Schätze“ oder in das beeindruckende             360-Grad-Panorama „Luther 1517 von Yadegar Asisi mit Bildern rund um die Geschehnisse vor 500 Jahren“. 

Wittenbergs Bewohner lieben ihren Luther und die Feierlichkeiten. Das ist an allen Ecken zu spüren. Gut, es gibt Ausnahmen. Wenn sich ein Angestellter im Cranachhaus über die in diesem Jahr ewig besetzten Parkplätze äußert, beispielsweise. Alle anderen lobpreisen ihren wichtigsten Bürger. Und das nicht nur aus Gründen des schnöden Mammons. 

Mit Stolz spricht ein junger Stadtführer von seiner „wohl schönsten Kleinstadt der Welt“, läuft rückwärts in Badeschlappen über den heißen Asphalt, um seiner Gruppe auch beim Gehen die wichtigsten Dinge zu erläutern. Wittenberg ist anregend und macht Spaß. Vielleicht wie damals, als sich hier die größten Geister versammelten. Wie ein Philipp Melanchthon, der eigentlich „Schwartzerdt“ hieß und sich aus Liebe zu alten Sprachen umbenannte. Professor an der Wittenberger Universität Leucorea, Wegbegleiter und sehr guter Freund Luthers. Je mehr man über ihn erfährt in seinem wunderbar restaurierten Renaissance-Haus in der Collegienstraße 60, desto größer wird der Wunsch, ihn einmal persönlich getroffen zu haben. Das als „Lehrer Deutschlands“ titulierte Universalgenie fasziniert auch 500 Jahre nach seinem Ableben. Da verblasst ganz kurz auch der, weswegen die Festivitäten in diesem Jahre stattfinden. 

Aber auch der dritte im Bunde, Lucas Cranach der Ältere, ist so lebendig in der Stadt vertreten, als käme er gleich pinselschwingend um die Ecke. Der Hof, den er mit seiner großen Familie und vielen Gehilfen bewohnte, ist restauriert und zu einem Kleinod geworden. Hier kann man es sich unter einem alten Kastanienbaum gemütlich machen und sich in die Renaissance zurückträumen, als Cranach in seiner Druckerstube die Übersetzung der Lutherbibel vervielfältigte.

Wer sich von Auswüchsen der Jubiläumsfeierlichkeiten, wie einer Schokobibel, einem Playmobil-Luther, Luthersocken, Lutherräuchermännchen oder Gummi-Entchen als Martin und Katharina verkleidet, nicht abschrecken lässt, wird angenehm überrascht werden.