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29.09.17 / Reichenbach besinnt sich seiner jüdischen Geschichte / Das in der Synagoge residierende Kulturzentrum »Rutika« lud dazu ein, die »Judenbach«-Tradition wiederzubeleben

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 39-17 vom 29. September 2017

Reichenbach besinnt sich seiner jüdischen Geschichte
Das in der Synagoge residierende Kulturzentrum »Rutika« lud dazu ein, die »Judenbach«-Tradition wiederzubeleben
Chris W. Wagner

Das niederschlesische Reichenbach [Dzierzoniów] besinnt sich wieder seiner jüdischen Geschichte. Ende September lud das in den Räumlichkeiten der Reichenbacher Synagoge residierende Kulturzentrum „Rutika“ dazu ein, die jüdische Tradition der Stadt wiederzubeleben. Im Rahmen der Feierlichkeiten wurde israelischer, koscherer Wein verkostet und bei Musik und Tanzdarbietungen das jüdische Neujahr 5778 begrüßt. In Vorträgen und Ausstellungen wurde an die in Polen kaum bekannte Geschichte von „Judenbach“ („Zydbach“) erinnert.

„Dass die Synagoge noch heute existiert, gleicht einem Wunder, denn sie zählt zu den wenigen Synagogen Niederschlesiens, die den Vandalismus der ‚Reichskristallnacht‘ vom 9. November 1938 überdauert haben“, so Gabriel Berger, Autor des Buches „Umgeben von Hass und Mitgefühl“, das über die jüdische Selbstverwaltung nach 1945 in Niederschlesien handelt, im Periodikum „Schlesien heute“. „Nachdem 1937 Gottesdienste in der Synagoge von Reichenbach von den Nazi-Behörden verboten worden sind, wurde sie zum Verkauf ausgeschrieben. Der nichtjüdische Gärtner Konrad Springer kaufte das Gebäude und verhinderte damit, dass es in der ‚Reichskristallnacht‘ zerstört wurde“, so Berger.

Anfang des 19. Jahrhunderts zogen jüdische Kaufleute und Textilfabrikanten in die Textilstadt Reichenbach und gründeten ihre Gemeinde, die bei der Reichsgründung 1871 200 Mitglieder zählte. Die wohlhabende Gemeinschaft hatte bereits vier Jahre darauf eine großzügig gestaltete Synagoge errichtet. Durch die antisemitische Politik der Nationalsozialisten wurde jegliches jüdisches Leben in Reichenbach zerstört. Seit Ende 1942 galt die Stadt als „judenfrei“.

Nach der Vertreibung der Deutschen aus Reichenbach siedelten sich in der heute 34000 Einwohner zählenden Stadt 18000 polnische Juden an. Damit zählte Reichenbach, das 1945 und 1946 von der polnischen Verwaltung zunächst „Rychbach“ genannt wurde, zu den sechs am stärksten jüdisch besiedelten der unter polnischer Verwaltung stehenden Städte. Der Ideengeber für die Ansiedlung war der Präsident des Woiwodschaftskomitees der Juden in Niederschlesien Jakub Egit. Dieser wurde vom polnischen Zentralkomitee der Juden in seiner Absicht unterstützt, 100000 sogenannte repatriierte Juden aus der Sowjetunion in Niederschlesien im Rahmen einer „Wiedergutmachung“ anzusiedeln. Jiddisch war in „Judenbach“ Kommunikationssprache. Eine jüdische Selbstverwaltung organisierte den Alltag mit jüdischen Schulen, Kranken- und Waisenhäusern, Kibbuzim, Handwerksgenossenschaften, einem Theater, Zeitungen und einem jiddischsprachigen Buchverlag. 

Die kuriose Blütezeit hielt nicht lange an. Neid und antijüdische Stimmungen machten sich breit. Juden wurden zunehmend angegriffen, die polnische Verwaltung zeigte häufig eine Abneigung gegenüber der jüdischen Bevölkerung. Nach der Gründung des Staates Israel 1948 zogen die polnischen Kommunisten ihre Unterstützung zurück. Erneut verlor die Stadt innerhalb weniger Jahre einen Großteil ihrer Bevölkerung, die nun nach Israel weiterzog. Aus der zum Kriegsende „judenfreien“ war also nur kurzzeitig eine „rein jüdische“ Stadt geworden. Die Kommunisten inhaftierten sogar Egit, der 1957 nach Kanada gelangte, wo er 1991 seine Autobiographie „Grand Illusion“ veröffentlichte.

Nachdem 1948 noch 7000 Juden in Reichenbach verblieben waren, ging auch diese Zahl bald rapide zurück. „Die Auswanderungswellen aus Polen in den 50er und 60er Jahren reduzierten schließlich die Zahl der Juden in Reichenbach und Umgebung so dramatisch, dass der für den Gottesdienst in der Synagoge notwendige Minjan von zehn gläubigen Männern kaum noch zu erreichen war“, so Gabriel Berger. 1968 bis 1980 fanden in der Synagoge nur gelegentlich Gottesdienste statt. Ihre Nutzung wurde schließlich eingestellt, das Gebäude verfiel. 

Anfang der 90er Jahre ist die zum Museum der Region umfunktionierte Synagoge notdürftig renoviert worden. Durch Leerstand und Vandalismus war sie jedoch dem Verfall geweiht. Erst als Rafael Blau, ein Jude aus Beerscheba in Israel, die Stadt seiner Kindheit besuchte, kam Hoffnung für wenige, vorwiegend alte Reichenbacher Juden auf. Für Rafael Blau und seine Frau Dorin wurde die Rettung der Synagoge zu einer Herzensangelegenheit. Sie gründeten die Stiftung „Bejtejnu Chai“ (unser Haus lebt), kauften das Gebäude, versetzten es in einen vorzeigbaren Zustand und eröffneten darin das interkulturelle Zentrum „Rutika“, in dem auch die diesjährigen Jüdischen Kulturtage gefeiert wurden. Für eine vollständige Renovierung sind die Mittel jedoch noch nicht beisammen.