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06.10.17 / Gegenwind / Die hehre Theorie vom Parlamentarismus

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 40-17 vom 06. Oktober 2017

Gegenwind
Die hehre Theorie vom Parlamentarismus
Florian Stumfall

Die Wahl ist vorbei, ein „Hochfest der Demokratie“, wie man so sagt, der neue Bundestag kann sich konstituieren, immerhin die Vertretung des Souveräns, des Volkes, wie es im Grundgesetz heißt, ein Ereignis von großer Würde und hoher Bedeutung. Das Volk hat gesprochen, und seine Stimme soll nun im Hohen Hause erklingen, jedenfalls nach der hehren Theorie vom Parlamentarismus.

Die Wirklichkeit indes sieht anders aus. Im neuen Parlament finden sich zunächst die Fraktionen zusammen. Auf sie verteilt sich die gesamte Macht, die der Bürger zu delegieren hatte, anteilig nach der Stimmenzahl, die jeweils auf eine Partei entfallen ist. Diese Fraktionen stellen die Kraftfelder des Parlaments dar, hier fallen die Entscheidungen, nicht, wie der naive Wähler meint, im Parlamentsplenum. Wenn dort ein Abgeordneter eine Sache vertritt, dann weiß er bereits in dem Augenblick, in dem er das Rednerpult betritt, ob das Hohe Haus ihm zustimmen wird oder nicht. Denn die Mehrheitsverhältnisse sind ja bekannt, und um die geht es, nicht um die Kraft des Arguments.

Der Redner vertritt, von seltenen Ausnahmen abgesehen, die Meinung seiner Fraktion, die sich im günstigen Fall mit seiner persönlichen deckt. Es scheint auch die Klage müßig zu sein, dass während der sogenannten Debatten im Allgemeinen nur eine Handvoll von Abgeordneten im Plenum anwesend ist. Denn wenn das Ergebnis einer Abstimmung von vornherein feststeht, dann suchen sich die meisten Parlamentarier eine ertragreichere Tätigkeit; von Wahlkreis-Arbeit ist dann erklärend die Rede oder von Besuchen.

Dann und wann aber geht ein Raunen durch die erlauchten Reihen. Das ist jedes Mal der Fall, wenn verkündet wird, der Fraktionszwang bei der nun folgenden Abstimmung sei aufgehoben. Dann füllen sich die Reihen im Plenum, dann werden persönliche Bekenntnisse und Erklärungen vorgetragen, warum dieser oder jener nicht im Sinne seiner Fraktion abstimmt. Das ist allerdings selten der Fall, am ehesten, wenn es sich bei dem Gegenstand, der zur Abstimmung steht, um eine Gewissensfrage handelt, um Abtreibung oder Ehe für alle oder sonst eine heikle Sache. Dann also fällt der Fraktionszwang und die Abstimmung wird freigegeben.

Und niemand, nicht ein einziger Parlamentarier, nicht ein einziger Journalist oder einer jener ominösen politischen Beobachter bringt zur Sprache, dass bei diesem Vorgang ein monströser Verfassungsbruch offenbar wird. Denn es gibt im Grundgesetz einen meist vergessenen und durchgehend gebrochenen Artikel 38, der in Absatz 1 festlegt, dass die Abgeordneten Vertreter des ganzen Volkes sind, „an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen“.

Das sieht freilich völlig anders aus als die tägliche Praxis. Wenn nämlich im Ausnahmefall, bei vorliegender Gewissens-Relevanz, der Fraktionszwang aufgehoben wird, so bedeutet das, dass er ansonsten, nämlich fast durchgehend, besteht, entgegen der unmissverständlichen Regelung durch das Grundgesetz. Es wird also offiziell im Bedarfsfall ein grundgesetzwidriger Zustand aufgehoben und damit dokumentiert, dass dieser Verfassungsbruch ansonsten die tägliche, unbestrittene und unangefochtene Normalität darstellt. Verfassungsbruch als parlamentarischer Regelfall, der niemanden beunruhigt.

Abgesehen davon, dass es schön wäre, wenn die Abgeordneten ihr Gewissen nicht nur bei hervorgehobenem Festtagsbedarf bemühten, sondern alle Belange des Volkes ernst nehmen sollten, machen sie sich selbst durch eine solche Gewohnheit im Grunde überflüssig. Der parlamentarische Alltag in Deutschland liefe nicht signifikant anders ab als jetzt, wenn man nach einer Wahl die Mehrheiten feststellte und danach einem dazu bestallten Vertreter einer jeden Partei eine entsprechende Anzahl von Stimmrechten zuwiese. Dann könnten sich die vier, fünf oder sechs Fraktionsvertreter in kleinem Kreis zusammensetzen und, so wie bei der Eigentümerversammlung einer Kapitalgesellschaft, ihre jeweiligen Stimmanteile gegeneinander aufwägen und die entsprechenden Beschlüsse fassen.

Die restlichen 650 bis 700 Abgeordneten bräuchte man somit nicht zu behelligen. Sie hätten dann Zeit für jene oft betonte Wahlkreis-Arbeit. Da geht es darum, Post zu beantworten und Termine zu ordnen und anderes mehr. Für solche Arbeiten stellt das Parlament finanzielle Mittel zur Verfügung, weil derlei ein Mitarbeiter erledigt. Bemühungen um eine Umgehungsstraße oder die Verlängerung für ein Kohlekraftwerk sind eine andere Sache, da muss sich der Volksvertreter selbst ins Mittel legen.

Aber auch diese Wahlreis-Arbeit stellt, nebenbei bemerkt, mit Blick auf das Grundgesetz zumindest ein Missverständnis dar. Denn der Parlamentarier XY ist nicht Abgeordneter des Wahlkreises YZ, sondern des ganzen deutschen Volkes, wie der schon bemühte Artikel 38 festlegt. Das heißt aber auch, dass der Bundestag mit seiner finanziellen Ausstattung der Parlamentarier zumindest teilweise einen Zustand finanziert, der dem Sinn des Grundgesetzes nicht entspricht.

Doch die Abgeordneten nehmen es dankbar hin, wie überhaupt der Sold in ihrem politischen Dasein eine zentrale Rolle spielt, schließlich handelt es sich so gut wie durchgehend um Hauptberufs-Politiker. Das ist auch der Grund, warum sie sich fast ausnahmslos von ihren Fraktionen und die Angehörigen der Mehrheits-Parteien zusätzlich von der Regierung an die Wand spielen lassen.

Kein Abgeordneter will seiner Karriere innerhalb des Parlaments im Wege stehen. Doch wenn sich einer nicht windschnittig, sondern obstinat zeigt, so weiß er, dass er weder zu einträglichen Ämtern innerhalb seiner Fraktion kommen noch je in die Riege der ministeriablen Abgeordneten aufsteigen wird. Und so lassen sich die Vertreter des Souveräns klaglos auch ihr edelstes, das Haushaltsrecht aus der Hand schlagen, wenn wieder einmal an einem Freitagabend die Entscheidung über irgendwelche Griechenland- oder Euro-Rettungs-Milliarden ansteht und die Unterlagen dazu, sagen wir, 600 Seiten, die Hälfte in Englisch, erst seit 24 Stunden vorliegen. Wer vom Haushalts- als dem „Königsrecht“ des Parlaments spricht, gehört entweder zu den Ahnungslosen oder zu den Zynikern.

Die Fraktionen also, ausgestattet mit viel zu viel Geld, können ihre Mitglieder damit locken, die Regierung kann es mit Karriere-Versprechen. Doch dieses Zweitere ist auch nur wegen eines weiteren ordnungspolitischen Missstandes möglich. Es wird nämlich in der heutigen  politischen Praxis so gut wie durchgehend gegen das grundlegende Gebot der Gewaltenteilung als eines Garanten jeder freiheitlichen Ordnung verstoßen. Es gibt nämlich nicht mehr die Unterscheidung zwischen Legislative und Exekutive. Im Regelfall gehört jedes Regierungsmitglied gleichzeitig dem Parlament an. Die Kontrollfunktion des Hohen Hauses, das zweite „Königsrecht“ entfällt somit. Wie sich das im Alltag darstellt, hat vor einiger Zeit eine zum Überdruss bekannte, weil omnipräsente TV-Moderatorin gezeigt. Sie sprach davon, dass die Opposition die Regierung zu kontrollieren habe, und offenbarte so ihr Unwissen wie auch unabsichtlich den Missstand. Dass es die ganze Legislative ist, die eine Exekutive zu kontrollieren hat, ist in Vergessenheit geraten, und die Angehörigen zumindest der Regierung freut es.

Das ordnungspolitische Innehalten zeigt: Deutschlands Verfassungswirklichkeit ist in Unordnung. Ein überaus günstiger Biotop für die Kanzlerin.