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06.10.17 / Friedrich Dickels »Vertrauliche Verschlusssache« / Nach welchen Kriterien die DDR Reiseanträge in die Bundesrepublik Deutschland entschied

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 40-17 vom 06. Oktober 2017

Friedrich Dickels »Vertrauliche Verschlusssache«
Nach welchen Kriterien die DDR Reiseanträge in die Bundesrepublik Deutschland entschied
Heidrun Budde

Streng geheim!“, „Vertrauliche Verschlusssache!“, „Geheime Kommandosache!“, von diesen Dokumenten gab es in der DDR viele und wir haben bisher nur einen Bruchteil davon aufgearbeitet. Doch der Inhalt dieser Schriftstücke zeigt den tatsächlichen politischen Willen auf und hilft gegen das Vergessen und Verharmlosen, das heute, 27 Jahre nach der deutschen Vereinigung, leider immer mehr anzutreffen ist. 

1972, nach Abschluss des Grundlagenvertrages, hatten die Menschen in Ost und West große Hoffnungen, dass sie sich nun wieder häufiger besuchen dürften. Einige DDR-Bürger bekamen die Ausreisegenehmigung, andere aber nicht, und die Begründung für diese Entscheidungen blieb völlig verborgen.

Die streng geheimen Regelungen zu diesen Fragen lagen im Panzerschrank des Innenministers Friedrich Dickel. Er erließ mehrere vertrauliche Vorschriften und die vom 24. September 1976 („Vertrauliche Verschlusssache“ Nr. I 020784) regelte ausgesprochen gründlich, wer zur Hochzeit, Beisetzung oder zum runden Geburtstag in die Bundesrepublik reisen durfte. Die Antragsteller mussten „politisch absolut zuverlässig“ sein, „eine feste Bindung an die DDR“ haben und die „Gewähr dafür bieten, dass sie die DDR in der BRD beziehungsweise Westberlin würdig vertreten“ würden. Nur, wer eine „einwandfreie politische Grundhaltung, Zuverlässigkeit und Treue zur DDR“ vorweisen konnte, hatte eine Chance, seine Verwandten in der Bundesrepublik zu besuchen. 

In einer Anlage 1 der geheimen Vorschrift wurden dann sehr konkrete Kriterien vorgegeben, die von der Polizei heimlich zu hinterfragen waren. Hier nur einige Beispiele: „Eindeutige Parteinahme für die sozialistische Entwicklung in der DDR“; „Teilnahme am gesellschaftlichen Leben im Wohngebiet“; „Persönliches Engagement durch progressive Meinungsäußerung“; „Vorbildliches Verhalten im Arbeitskollektiv“; „Aktivität bei der Erziehung anderer Arbeitskollegen zu einer hohen Arbeitsmoral“; „Moralisch einwandfreie Ehebeziehungen“; „Sozialistische Erziehung der Kinder“; „Feste Bindung an in der DDR lebende Verwandte (Eltern, Kinder, Geschwister und so weiter)“; „Bindung an in der DDR befindliche Vermögens- und andere Werte“. 

Die Teilnahme an der Beisetzung von Vater oder Mutter oder an der Silberhochzeit vom Bruder hing davon ab, ob befragte Nachbarn oder Arbeitskollegen wohlwollend über den Kandidaten berichteten, was sich in den gesichteten Akten dann so liest: „Unser Kollektiv kann sich für ein vorbildliches Auftreten Kollegin H’s in der BRD verbürgen.“ / „Aus meiner Berufs-, Partei- und Lebenserfahrung heraus vertraue ich der Staatstreue von Kollegin L.“ / „In unserem Kollektiv wie auch im Wohngebiet ist sie stets als ordentliche und korrekte Persönlichkeit geachtet.“ / „Ihre Familienverhältnisse sind geordnet und der Politik unserer Partei zugewandt. Ihr Ehemann ist ebenfalls Genosse.“/ „Bereits einmal hatte die Kollegin S. Gelegenheit, die Oma in der BRD zu besuchen. Sie kehrte mit einer gesunden Haltung zurück.“ / „Beide Eheleute führen eine glück­liche Ehe, sodass auch unter diesem Aspekt keine Gefahr besteht, eventuellen Verlockungen nachzugeben.“

Einige befragte DDR-Bürger neideten aber wohl die Reisemöglichkeit und gaben dann solche Stellungsnahmen ab: „Genossin H. geht in Rente. Ihr Ehegatte ist Invalidenrentner. Uns ist bekannt, dass sie sich abfällig über ihre Ehe geäußert hat und vor Jahren die Scheidung in Erwägung gezogen hat.“ / „Ihre politische Meinung äußert sich sehr zaghaft. Als Wirtschaftsleiterin müsste sie in dieser Richtung mehr in Erscheinung treten.“ / „Uns ist bekannt, dass Kollege L. aufgrund seiner engen Bindungen zu seinem in der BRD lebenden Vater zum zweiten Mal über Genex-Geschenkdienst einen Pkw erhielt.“ / „Zu vielen Fragen des Lebens, auch zu politischen Problemen, hat Kollegin B. sehr naive Vorstellungen.“ / „Kollegin Edith K. arbeitet … als Kindergärtnerin. Sie ist Mutter von zwei Kindern. Kollegin K. führt keine harmonische Ehe. Beide Ehepartner verleben den Urlaub immer getrennt. Es waren schon zweimal Scheidungsabsichten vorhanden und gerichtlich eingereicht worden.“ / „Frau K. nahm … ihre Tätigkeit als Raumpflegerin in unserer Einrichtung auf … In Arbeitsberatungen ist sie zurückhaltend und tritt kaum in Erscheinung. Sie hat eine 2½-Zimmerwohnung, die sie mit ihrem Mann und den zwei Kindern bewohnt. Die Wohnung ist nur wenig eingerichtet. Über weitere Besitztümer verfügt sie nicht … Sie nimmt in unserem Kollektiv keine geachtete Stellung ein, da sie ihre Arbeitszeit von vier Stunden täglich nicht auslastet.“

In diesen Stellungnahmen, die diese Personen nicht als „Inoffizielle Mitarbeiter der Staatssicherheit“ (IM), sondern als Arbeitskollegen abgaben, wird deutlich, dass der menschliche Anstand eine sehr große Rolle spielte. Jedem Befragten war bewusst, worum es hier eigentlich ging, nämlich nicht um das sehr persönliche Anliegen, an einer Familienfeier teilzunehmen, sondern im Mittelpunkt stand die Frage, ob der DDR-Bürger die Reise zur Flucht nutzen würde. Kritische Äußerungen zur politischen Einstellung oder aktuelle Ehezerwürfnisse konnten durchaus zur Versagung der Genehmigung führen. Die Befragten kamen in Bedrängnis, doch sie erhielten auch Freiräume für Boshaftigkeit. Einige nutzten das aus, aber viele aus Solidarität mit den Antragstellern nicht. 

Diese nebulösen Abhängigkeitsverhältnisse der Bürger untereinander und zwischen Staat und Bürger entzogen sich jeglicher juristischer Kontrolle, denn einen Klageweg gab es nicht, und dieser Umgang erzeugte große Wut, die wesentlich dazu beigetragen hat, dass 1989 Hunderttausende gegen das SED-Regime aufbegehrten. 

Heute muss sich niemand mehr dafür rechtfertigen, wenn er von Rostock nach Hamburg oder von Leipzig nach München fährt. Das ist inzwischen eine Normalität, die es jahrzehntelang in Deutschland nicht gab, und Erinnern hilft gegen das Vergessen und Verharmlosen.