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06.10.17 / Alltagsleben im heutigen Iran

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 40-17 vom 06. Oktober 2017

Alltagsleben im heutigen Iran
Dirk Klose

Nach dem vor zwei Jahren erreichten Nuklearabkommen mit dem Iran ist der schiitische Gottesstaat etwas aus den Schlagzeilen verschwunden. Gleichwohl ist das Interesse am Iran nach wie vor groß. Davon zeugen zwei jüngst erschienene Bücher, die auf ganz unterschiedliche Weise Politik und Gesellschaft dieses oft fremden, mitunter auch unheimlich anmutenden Landes zu erklären versuchen. 

Während das in dieser Zeitung bereits vorgestellte Buch des Hamburger Nahostexperten Henner Fürtig (siehe Nr. 20/2017) in mehr politikwissenschaftlicher Art Geschichte und heutige Strukturen Irans aufzeigt, geht die Journalistin Charlotte Wiedemann einen anderen Weg. 

In zahlreichen Begegnungen mit Frauen und Männern aus ganz unterschiedlichen Berufen und unterschiedlichem Bildungsniveau spiegelt Wiedemann am jeweiligen Einzelschicksal den Alltag der Menschen, der einerseits noch immer von den Vorgaben der führenden schiitischen Geistlichkeit bestimmt wird, sich aber andererseits immer größere Freiräume gegenüber engen religiös-ideologischen Bestimmungen erkämpft.

Das anschaulich geschriebene Buch nimmt den Leser durch die lebendigen Porträts der vorgestellten Menschen gleich für diese ein. Es sind Künstler, Regisseure und Schriftsteller, ferner einfache Angestellte, höhere Beamte, Wissenschaftler, auch zahlreiche Frauen, die sich nach oben gearbeitet haben. Fast alle hatten die Revolution von 1979 und den Machtantritt Khomeinis unterstützt. 

Heute ist bei vielen die damalige Begeisterung verflogen, zumindest ist Ernüchterung eingetreten, aber ein Zurück will niemand. Die Auflagen und Vorgaben der Geistlichkeit werden nolens volens akzeptiert, aber immer mehr gelingt es vielen Menschen, sich künstlerische, berufliche, ja überhaupt freiere Alltagsgewohnheiten zu erkämpfen, allerdings immer, das zeigt die Autorin sehr deutlich, stets unter dem „Damoklesschwert“, dass eben doch ab und zu die Obrigkeit rigoros mittels Berufsverboten, polizeilichen Vorladungen und oft auch harten Gefängnisstrafen ihren Vorschriften Geltung verschafft.

Die Menschen im Iran leben, so die Autorin, gegenüber dem Wes-ten in einem Zwiespalt. „Achtet uns“ sei das immer wieder gehörte Verlangen, womit ein Minderwertigkeitsgefühl kompensiert wird. Andererseits fühlen sich die Menschen in diesem Vielvölkerstaat – nur gut die Hälfte der 80 Millionen Einwohner ist ja wirklich iranischen oder persischen Ursprungs – wegen ihrer jahrtausendealten Kultur den benachbarten Staaten überlegen und dem Westen zumindest ebenbürtig. 60 Prozent der Bevölkerung haben eine universitäre Bildung, und das ehrgeizige Ziel der Staatsführung, Iran bis Mitte der 2020er Jahre zur führenden Nation in Nahost und Zentralasien zu machen, lässt solche Prognose angesichts einer für uns fast unglaublichen Technikbegeisterung im Land keineswegs als Utopie erscheinen. 

Das eigentliche Machtzentrum Irans, der aus 80 Geistlichen bestehende Expertenrat mit dem inzwischen hochbetagten Revolutionsführer Khamenei an der Spitze, bleibt im Buch recht unscharf. Hier hätte man sich eine genauere Darstellung der unterschiedlichen Positionen, soweit erkennbar, gewünscht, vielleicht auch, welche Spielräume Parlament und Regierung unter Präsident Hassan Rohani letztlich haben. Aber dafür entschädigt eben doch die plastische Darstellung des alltäglichen Lebens. 

Wiedemann nennt es Lebenskunst, die sich die Menschen im heutigen Iran mit seinen formal strengen religiösen Bestimmungen und den mannigfachen, aber auch unsicheren Möglichkeiten eines selbstbestimmten Lebens, notgedrungen zugelegt haben: „Es ist tatsächlich eine Kunst, im Iran zu leben. Und sie entzieht sich, wie alle Kunst, völliger Erklärbarkeit.“

Charlotte Wiedemann: „Der neue Iran. Eine Gesellschaft tritt aus dem Schatten“, dtv, München 2017, gebunden, 288 Seiten, 22 Euro