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20.10.17 / Nicht ohne ihre Tochter / Bahnbrechende Serie in der ARD – In acht TV-Folgen macht sich eine Mutter auf die intensive Suche nach ihrem vermissten Kind

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 42-17 vom 20. Oktober 2017

Nicht ohne ihre Tochter
Bahnbrechende Serie in der ARD – In acht TV-Folgen macht sich eine Mutter auf die intensive Suche nach ihrem vermissten Kind
Harald Tews

Die ARD-Serie „Das Verschwinden“ ist Ausdruck einer neuen Epoche im Fernsehen: hochwertige Serienformate jenseits üblicher Normen und Gewohnheiten. Re­gisseur Hans-Christian Schmid sprach darüber mit der PAZ.


Täglich gehen in Deutschland bei der Polizei bis zu 300 Ver­miss­tenanzeigen ein. Was nach ei­ner dramatisch hohen Zahl klingt, relativiert sich durch die Tatsache, dass innerhalb eines Monats be­reits 80 Prozent der Fälle aufgeklärt werden. Die meisten anderen als vermisst geltenden Personen kehren binnen eines Jahres aus der Versenkung zurück.

Meist sind Beziehungsstreitigkeiten die Ursache für das Verschwinden einer Person. Um beispielsweise wegen schlechter Schulnoten Ärger mit ihren Eltern aus dem Weg zu gehen, büxten in Deutschland im Jahr 2016 rund 8000 Kinder im Alter bis 13 Jahren von zu Hause aus. Laut Statistik des Bundeskriminalamts wurden bis zum Mai 2017 über 94 Prozent der Fälle aufgeklärt. Weil die meisten Kinder von selbst nach Hause zurückkehren, muss die Polizei oft nichts weiter tun als abzuwarten.

Eltern haben allerdings oft im Gefühl, ob ihrem Kind etwas zugestoßen ist oder nicht. In der Miniserie „Das Verschwinden“, welche die ARD vom 22. Oktober an ausstrahlt, kann sich eine Mutter nicht damit abfinden, dass nach dem Verschwinden ihrer Tochter die Polizei die Hände einfach in den Schoß legt. Sie spürt, dass mehr als nur Beziehungsstress dahintersteckt, ein Verbrechen vielleicht. Deshalb kann sie zu Hause nicht einfach abwarten und Tee trinken, sondern macht sich auf eigene Faust auf die Suche nach ihrer Tochter. 

Damit sticht sie aber in ein Wespennest. Denn durch ihre Schnüffeleien mischt sie eine ganze Kleinstadt in der bayerisch-tschechischen Grenzregion auf, denn in vielen ihr bekannten und benachbarten Familien deckt sie ungeahnte Abgründe auf.

Der chirurgisch präzise Blick hinter die Fassade einer wohlgeordneten sozialen Gemeinschaft ist eine der Stärken von Regisseur Hans-Christian Schmid. Das hat er schon mit einem seiner ersten Filme bewiesen: Die Komödie „Nach Fünf im Urwald“, die 1995 zum Kinohit wurde, war so etwas wie ein komödiantischer Vorläufer von „Das Verschwinden“ – mit Happy End. Darin läuft die Party einer Schülerin im Haus ihrer Eltern völlig aus dem Ruder. Schließlich büxt sie nach München aus, wohin sie von ihren spießigen Eltern verfolgt wird, die sich dann ihrerseits in dem Großstadtdschungel verirren. 

Der Film war damals für die junge Franka Potente das Sprungbrett für eine große Karriere, die über den deutschen Kassenknüller „Lola rennt“ bis nach Hollywood führte, wo sie mit Stars wie Johnny Depp und Matt Damon drehte und wo sie heute lebt.

In „Das Verschwinden“ setzt Schmid auf eine erfahrene Schauspielerin. Julia Jentsch, die 2005 als Sophie Scholl im gleichnamigen Film brillierte, spielt die Mutter Michelle, die in vier Doppelfolgen am 22., 29., 30. und 31. Ok­to­ber jeweils um 21.45 Uhr eigene detektivische Ermittlungen 

zwecks Aufspürens ihrer 20-jährigen Tochter Janine durchführt.

Für den aus dem oberbayerischen Altötting stammenden Regisseur Schmid ist diese sechsstündige Serie sein erstes großes TV-Abenteuer. Außer „Nach Fünf im Urwald“ schuf er bekannte Kinofilme wie das Hacker-Drama „23 – Nichts ist so wie es scheint“, den Jugendfilm „Crazy“ oder den Episodenfilm „Lichter“. 

Aus „Das Verschwinden“ wollten er und sein Co-Drehbuchautor Bernd Lange aber keinen Kinofilm machen, „weil sich die Geschichte so, wie wir sie erzählen mit dem Blick auf die Familien in der Kleinstadt, eher für fünf oder sechs Stunden eignet“, sagt Schmid.

Der Regisseur selbst ist ein Serienfan. In den 80er Jahren saß er allabendlich vor dem Fernseher, als David Lynchs „Twin Peaks“ lief. Später hat er sich leidenschaftlich die Mafiasaga „Die Sopranos“ oder die deutsche Krimiserie „Im Angesichts des Verbrechens“ angesehen. Weil das Fernsehen inzwischen so komplexe Formate erzählen kann, wollte er es selbst einmal ausprobieren.

Eine kleine Zeitungsmeldung war Ausgangspunkt für sein bislang längstes Filmprojekt. Aus der Meldung ging hervor, dass eine Mutter auf eigene Faust nach ihrer vermissten Tochter ermittelt, ohne zu wissen, wie man Ermittlungen eigentlich anstellt. Den Rest muss­ten sich Schmid und Lange praktisch selbst aus den Rippen schneiden.

Dabei häuften sich Unmengen von Material an, das unmöglich in 90 Minuten fürs Kino hätte verarbeitet werden können. Hinzu kam der Ehrgeiz, nicht bloß einen Vermisstenfall vor dem Hintergrund der Drogenkriminalität an der tschechischen Grenze zu erzählen, sondern die Charaktere und alle in den Fall involvierten Familien differenziert auszuleuchten. Daraus ergab sich am Ende eine Geschichte von sechs Stunden.

Danach bot das Autorenduo den ARD-Sendeanstalten eine 120-seitige Drehbuchfassung an, die als Serie auf sechs mal 60 Minuten angelegt war. Als der Bayerische Rundfunk anbiss, kam nur die Frage auf, wie das in das starre Sendeschema passen sollte. Und sollten es nicht eher acht mal 45 Minuten sein? „Diese Fragen waren für uns neu“, erinnert sich Schmid, „was bedeutet das für das Ende einer Folge? Wie wirkt sich das auf die Cliffhanger aus? Wie schaffen wir es, dass sie nicht wie aufgesetzt wirken?“

Also mussten neue „Cliffhanger“ her, also Spannungshöhepunkte an den Enden der einzelnen Folgen, welche die Zuschauer bei der Stange halten. Das Problem wurde rasch gelöst. „Wichtig war uns auch“, erzählt Schmid, „dass kein Kommissar als Ermittler im Mittelpunkt steht, sondern jemand wie du und ich, der mit dieser Aufgabe überfordert ist.“ Trotzdem kommt einem der Film wie ein „Tatort“ in Langform vor, ohne dass darin ein Hauptkommissar seinen Seelenmüll ablädt.

Mit seiner Miniserie zollt Schmid auch der Tatsache Tribut, dass sich die Sehgewohnheiten des Publikums verändert haben. Serien, vor allem Internet-Streamingdienste wie Netflix oder Amazon Prime, werden immer beliebter. Trotzdem hält Schmid das herkömmliche TV wie auch das Kino nicht für Auslaufmodelle: „Sie können trotz Netflix oder Amazon gut nebeneinander existieren. Nur das Arthouse-Kino ist meiner Ansicht nach gefährdet, was ich schade finde, aber das lässt sich wegen der Sehgewohnheiten heutiger jugendlicher Zuschauer wohl nicht ändern.“

Hoffentlich hält es Schmid nicht davon ab, wieder einen Film über die familiären Abgründe fürs Kino zu drehen.