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20.10.17 / Was für ein Zirkus / Schüler als Artisten – Zirkuspädagogen bereichern den Unterricht mit spaßvollen Koordinations- und Konzentrationsübungen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 42-17 vom 20. Oktober 2017

Was für ein Zirkus
Schüler als Artisten – Zirkuspädagogen bereichern den Unterricht mit spaßvollen Koordinations- und Konzentrationsübungen
Stephanie Sieckmann

Die Schule, das ist vielen klar, ist ein einziger Zirkus. Was aber ist, wenn „Zirkus“ zum Unterrichtsplan gehört und man sich wirklich wie ein Clown oder Akrobat benehmen soll? Es kann sich positiv auf die Noten auswirken.

Eine zarte Gestalt schwingt sich an einem an der Decke befestigten Vertikaltuch hin und her. Scheinbar mühelos hält Jara mit sehr viel Körperbewusstsein den kleinen Körper in der Waagerechten ausgestreckt. Das lange blonde Haar fliegt hin und her, während sie mit geschmeidigen Bewegungen die Position verändert. Schließlich steht sie aufrecht, den linken Arm anmutig seitwärts gestreckt, und strahlt dabei so professionell, dass der Eindruck entsteht, sie zeige diese Vorstellung jeden Abend. 

Doch Jara ist zwölf Jahre alt und geht in die sechste Klasse eines Gymnasiums in Schleswig-Holstein. Gemeinsam mit ihren Mitschülern hat sie eine Woche lang an einem Zirkusprojekt teilgenommen und tritt an diesem Abend das erste Mal vor Zu­schauern auf. Nach Jara zeigt Mitschüler Henry, was er am Trapez kann. In überschaubarer Höhe und mit einer dicken Matte unter dem Trapez bewegt er sich hoch konzentriert akrobatisch an­spruchsvoll hin und her. 

Dann kommt Yannik an die Reihe. Er hat sich dafür entschieden, als Clown die Zuschauer zu unterhalten. Anschließend jongliert Marta mit sechs Bällen, dann überlässt sie die Manege Sönke und Mia, die den Zaubertrick mit der Kiste und der Säge einstudiert haben. Mia klettert in die Kiste, Sönke sägt. Die Zuschauer halten den Atem an.

Ein Blick in die Zuschauermenge zeigt: Eltern, Großeltern und kleine Geschwister sind begeistert von den ungeahnten Fähigkeiten des Nachwuchses. Wer hätte gedacht, dass in der Familie Zirkus-Gene vorhanden sind? Vergessen sind die Fünf in Mathe, die Sechs in Latein und das tägliche Gequengel wegen der Hausaufgaben und der Vokabelpaukerei. Die Konzentration, die die lieben Kleinen zu Hause vermissen lassen, und in der Schule erst recht, zeigt sich hier ungebrochen über eineinhalb Stunden. 

Es ist faszinierend zu sehen, wie völlig anders das eigene Kind sein kann. In diesem Moment sind die Eltern stolz auf ihre Kinder. Und allein dafür hat sich das Zirkusprojekt wahrscheinlich schon gelohnt. Vermutlich ist genau das der Punkt, weshalb vor allem viele Eltern so begeistert sind davon, dass immer mehr Schulen regelmäßig den Unterricht zum Zirkus machen. 

Bundesweit haben sich kleine Zirkus-Unternehmen etabliert, die an Schulen derartige Projekte durchführen. Was keiner ausspricht: Viele Zirkus-Familien, die dank PETA, der Tierschutzorganisation, und sinkender Reallöhne so gut wie keine Zuschauer mehr haben und die Aufgabe des Be­triebes und eine Umschulung andenken müssten, haben mit den Schulprojekten eine neue Aufgabe gefunden, die sie zuverlässig am Leben erhält. Auch die Schulen profitieren. Zirkusprojekte lassen sich hervorragend zur Zeit der Fahrtenwochen durchführen, wenn ganze Jahrgänge auf Klassenreise unterwegs sind und durch die dort mitfahrenden Lehrer Lücken im Stundenplan entstehen. Damit wird Beschwerden von Eltern vorgebaut, die sich über den Unterrichtsausfall be­klagen. So wird für beide Seiten 

– Zirkus und Schule – aus der Not eine Tugend gemacht. 

Kommt der Zirkus in die Schule, werden die Wohnwagen auf dem Sportgelände geparkt, und dann geht es los. Am ersten Tag des Projektes wird von den Schülern das Zirkuszelt auf dem Schulhof aufgebaut. Selbstverständlich unter Anleitung der Artisten, die nun aber Zirkuspädagogen genannt werden. In den folgenden vier Tagen dürfen die Kinder – mal sind es Grundschüler, mal ist es der sechste Jahrgang eines Gymnasiums – mit Kostümen, Lichtshow und Musik selbst aktiv werden und sich mit Akrobatik, Jonglage, Zauberei und Clownerie ausprobieren. Die Zirkuspädagogik schreibt sich auf die Fahnen, dass sie in der Lage ist, die motorischen Fähigkeiten und den Teamgeist zu fördern und im Rahmen des Zirkusprojektes das Selbstbewusstsein zu stärken. 

Im Zeitalter der digitalen Medien, in dem bekanntermaßen vor allem die Daumen gefordert werden, der Rest des Körpers aber zu kurz kommt, ist eine zusätzliche motorische Förderung erstrebenswert. Ob diese Förderung im Rahmen eines einwöchigen Projektes eine nachhaltige Wirkung hat, darüber lässt sich sicher streiten. Wird Fritzi das nächste Mal, wenn er allein zu Hause ist, das Handy und die TV-Fernbedienung zur Seite schieben und stattdessen jonglieren, Einrad fahren und auf Stelzen laufen? Wohl kaum. 

Eine ganz andere Frage ist es, wie es den Kindern ergeht, die unsportlich sind und die sich bei der Zirkusnummer blamieren. Zur Erinnerung: Kinder, die akrobatisch nicht geschickt sind, erleben diese Blamage nicht nur eine Woche lang täglich vor den Mitschülern, sondern auch noch bei den Vorstellungen vor großem Publikum. Das ist mit Sicherheit eine nachhaltige Erfahrung, die man jedem Kind ersparen sollte. Die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder sich nach einer derartigen Erfahrung abschotten, in sich zurückziehen und noch stärker in die virtuelle Welt flüchten, ist leider sehr groß.

Ohnehin ist das „Projekt für alle“ ein schwieriges Unterfangen. Jeder Hunde- und Pferdetrainer weiß, dass Übungen nicht nur einen motorisch schulenden Einfluss haben, sondern auch auf den Charakter wirken. Manche Übungen fördern das Selbstbewusstsein, andere sind dazu angetan, die Aufmerksamkeit und die Kooperationsbereitschaft zu fördern. Dominante Schüler benötigen deshalb andere Aufgaben und Übungen als schüchterne. Vorausgesetzt, man möchte langfristig ein verbessertes Miteinander, einen einfacheren Umgang erzielen. So mancher mag dabei entsetzt aufschreien und sagen, ein Kind könne nicht mit Tieren verglichen werden, und überhaupt könne ein Kind gar nicht genug Selbstbewusstsein mit auf den Weg bekommen. 

Trotzdem muss die Frage erlaubt sein, ob die Förderung von Selbstbewusstsein ohne die notwendigen Grundlagen langfristig nicht ein Eigentor ist. Selbstbewusstsein ist wichtig und muss bei allen Kindern gepflegt werden. Doch darf dies nicht dazu führen, dass auf das Erlernen von Sprachen, Mathematik, Rechtschreibung oder rudimentärer Kenntnisse von Physik, Chemie, Biologie verzichtet werden kann.

Was spricht dagegen, die Unterrichtsstunden durch das Schuljahr hinweg zu verteilen, um in allen Bereichen eine bestmögliche Ausbildung zu erzielen und ein Zirkusprojekt regelmäßig in den Ferien durchzuführen? Dann kommt es vor allem den Kindern zugute, deren Eltern es sich nicht leisten können, im Frühjahr in den Ski-Urlaub, im Sommer in den Badeurlaub zu reisen sowie die Kinder regelmäßig teure und aufwendige Sportarten ausüben zu lassen. Schule und Zirkus haben wie zwei Ertrinkende einander die Hand gereicht und hoffen auf gegenseitige Rettung. 

Daher ergibt es besonders viel Sinn, die Bedingungen dafür zu schaffen, dass gerade jene Kinder die Unterstützung erfahren, die sie am nötigsten haben, und das regelmäßig rund ums Jahr. Jara, Henry, Yannik, Mia und Sönke haben für ihre Zirkusnummern jedenfalls viel Applaus   erhalten. Vielleicht bekommen sie von ihren Eltern demnächst auch viel Applaus für bessere Schulnoten.