der November steht vor der Türe, und die Gedanken gehen jetzt stärker als sonst zurück in die Vergangenheit und zu denen, die nicht mehr unter uns sind. Wer Kränze auf die Gräber legen kann, weiß die Verstorbenen geborgen, aber für viele Vertriebene bleibt nur die Erinnerung, denn die Gräber ihrer Lieben sind unbekannt oder können nicht mehr gefunden werden. Die große Suche nach ihnen ist noch lange nicht beendet, wenn auch, wie wir in der letzten Folge berichteten, manche die Hoffnung aufgeben, und dazu gehört nun auch leider Herr Horst Barheier aus Herne. Zehn Jahre lang hat er versucht, etwas über seine Großmutter Auguste Strachowitz geb. Michalzik aus Lyck zu erfahren, leider vergeblich. Nun bedankt sich Herr Barheier für die Veröffentlichung seines Suchwunsches in Folge 30/2016 und für die damit verbundenen Bemühungen. Die Ostpreußische Familie war seine letzte Hoffnung gewesen, denn er hatte vorher schon viele Institutionen bemüht, manche Schreiben blieben unbeantwortet, andere enthielten nur einen zwar freundlichen, aber leider negativen Bescheid. Vielleicht wenn Herr Barheier sich schon früher an uns gewandt hätte, wäre die Suche erfolgreicher verlaufen, aber „hundert Jahre sind schon eine lange Zeit“, wie er schreibt, denn diesen Zeitraum hätten die gesuchten Informationen über Großmutter Strachowitz erfasst. Deshalb war auch ich nicht sehr hoffnungsvoll, als ich nach den wenigen Angaben von Herrn Barheier seinen Suchwunsch in unserer Kolumne veröffentlichte. Die Schwierigkeiten lagen nicht nur darin, dass sich das nachvollziehbare Geschehen um den Ersten Weltkrieg abspielte, sondern vor allem an dem frühen Tod seiner Großmutter: Die junge Ehefrau von Gustav Strachowitz und Mutter ihrer Tochter Martha verstarb an den Spätfolgen einer Geburt nach der Flucht aus ihrer masurischen Heimat. Dies könnte am Fluchtort Jüterbog, aber auch nach der Heimkehr an ihren Wohnort Lyck geschehen sein. Lyck ist allerdings nicht der Geburtsort von Auguste, einer geborenen Michalzik, sondern das Dorf Skomatzko am Aryssee. Herr Barheier hat überall nach diesen Namen geforscht, fand auch eine Spur, die sich allerdings als nicht begehbar erwies, weil der Betreffende mit dem gesuchten Namen eine Verwandtschaft ablehnte. Da Gustav Strachowitz nach dem frühen Tod seiner Frau wieder heiratete und die Familie nach Herne zog, endete wohl auch die Beziehung zu Ostpreußen. Zwar soll Tochter Martha – Mutter von Herrn Barheier – noch einige Male in Lyck gewesen, also muss es dort Verwandte gegeben haben, aber es erfolgte bisher kein Hinweis. Jetzt wirft ihr Sohn das Handtuch: „Ich werde meine Nachforschungen einstellen, mein Suchen begann 2007 und endet 2017. Schade, dass sich auf Ihren ausführlichen Bericht niemand gemeldet hat.“ Finden wir auch, aber vielleicht kommt doch noch einmal ein brauchbarer Hinweis, denn es sind ja erst 14 Monate seit der Veröffentlichung vergangen, und das ist für unsere Ostpreußische Familie nur ein kurzer Zeitraum.
Da haben wir gleich einen Beweis, dass sich auch nach längerer Zeit noch Informanten finden, wenn diese sich zuerst um erfolgversprechende Nachforschungen bemühten und keine falschen Hoffnungen erwecken wollen. Unser Mitdenker Dirk Oelmann aus Oranienburg ist da mal wieder fündig geworden und hat so Einiges zu dem vor einem Jahr veröffentlichten Anliegen von Frau Dreschel und der damit verbundenen Familienforschung sagen können. Sein Schreiben an die Suchende enthält mit Sicherheit einige passende Steinchen für ihr Familienmosaik: „Ihre Suchanfrage vom Oktober 2016 im Ostpreußenblatt ist mir erst gestern in die Hände gefallen. Bei dem Familiennamen Raupach bin ich hellhörig geworden. In meinem Heimatort Birkenwerder gibt es ein Denkmal für einen Peter Raupach. Bis mir ein Buch über das KZ-Außenlager Heinkel in die Hände fiel, wusste ich nichts über ihn. Peter Raupach ist 1904 geboren und 1945 umgekommen. Er hat den Häftlingen bei Heinkel geholfen und war dort angestellt. Er muss ja nichts mit Ihrer Familie zu tun haben. In Deutschland leben zurzeit etwa 3000 Menschen, die den Familiennamen Raupach tragen. Zu Ihren Großeltern: Der Geburtsort Ihrer Großmutter ist Freudenthal, Kreis Heiligenbeil. Ihr Großvater stammt wohl aus Liebau, Kreis Landeshut, Reg. Bezirk Liegnitz in Niederschlesien.“ Soweit die wichtigsten Informationen aus dem Brief von Herrn Oelmann an Frau Dreschel, die er auch uns übermittelt. Darüber freuen wir uns, denn in manchen Fällen bekommen wir trotz der Erfolge, die durch die Veröffentlichung in unserer Kolumne verzeichnet wurden, über diese keine Information. Da hören wir dann erst von dritter Seite, dass etwas Positives geschehen ist. Das ist schade, denn wie viele Leserinnen und Leser nehmen Anteil an den Wünschen und Fragen und warten darauf, dass sich Lösungen finden. Es brauchen ja keine großen Berichte zu sein, Erfolge kann man mit wenigen Worten ausdrücken, auch wenn es nur heißt: Es hat geklappt.
Schon im April hatte Bernd Dauskardt uns mitgeteilt, dass er wieder einmal etwas entdeckt hatte, was für ihn lebende Vergangenheit ist. Es geschah in einer memelländischen Kirche nahe Heydekrug, in Saugen. Als er das Gotteshaus betrat, fiel ihm auf, dass das Innere der Kirche wunderbar erhalten war und anscheinend sorgsam gepflegt wurde. Aber sein Hauptaugenmerk richtete er auf eine große, weiße Tafel, die viele Namen enthielt, denn es handelte sich um eine Gedenktafel für die im Ersten Weltkrieg Gefallenen, die aus dem Kirchspiel Saugen stammten. Und da stand auch sein Familienname: Ertmann Dauskardt, gefallen im Alter von 33 Jahren in Russland. Wie er feststellte, ist er mit diesem Ertmann über seinen Urgroßvater verwandt. „Es ist erschüttert zu lesen, wie aus den Sterbedaten auf der Gedenktafel ersichtlich wird, dass Väter und Söhne gleichseitig für ihr Vaterland starben“, schreibt Herr Dauskardt. Auch wenn es über 100 Jahre her ist, wird ihrer noch immer in dieser Kirche gedacht, kein Kriegsgeschehen hat die Tafel zerstört. Die deutsche Vergangenheit wird nicht verschwiegen, im Gegenteil, denn über dem Altar befindet sich die Inschrift in deutscher und litauischer Sprache: Ehre sei Gott in der Höhe. Dieser Bericht würde wohl zum Totengedenktagen passen“, schrieb Herr Dauskardt damals, ich meinte das auch und habe es nun in die Tat umgesetzt. Was mich an diesem Bild so beeindruckt, ist die Helle, die den in Lichtblau gehaltenen Altarraum durchflutet – ich kann da Herrn Duskardt nur beipflichten, wenn er von dieser memelländischen Kirche so angetan war. Ähnlich ist es ja dem vor einem Jahr verstorbenen Günter Uschtrin ergangen. Der nach der Vertreibung geborene Sohn ostpreußischer Eltern entdeckte in der Kirche von Coadjuthen auf den sich dort befindenden Gedenktafeln seinen Namen – das war die Initialzündung für seine späte, selbstgewählte Lebensaufgabe, die wechselvolle Geschichte der Ahnenheimat in einem 500 Seiten umfassenden Werk zu dokumentieren. Was eigentlich zuerst als Familienchronik gedacht war, wuchs – über die tätige Hilfe für die Pfarrkirche hinaus, die zum Bindeglied zwischen alten und neuen Bewohnern wurde – zu einem Geschichtswerk über das Memelland, dass heute eine wahre Fundgrube für alle ist, die sich für Ostpreußen und da vor allem für seinen nördlichen Teil, interessieren.
Unsere Ostpreußische Familie ist immer gut für Entdeckungen – ich denke da an das Kruzifix, das sich heute bei der Berliner Evangelischen Gemeinde Schlachtensee befindet und das aus einem ostpreußischen Gotteshaus stammen soll. Er wurde auf der großen Flucht im Januar 1945 auf einem Treckwagen bis nach Berlin gebracht und dort dem Pfarrer der Gemeinde übergeben, wie eine inzwischen verstorbene Zeitzeugin berichtete. Sie konnte sich aber nicht mehr erinnern, aus welcher Gegend der Treck kam und wo sich die Kirche befand, in der das gut erhaltene Kruzifix bis zur Flucht hing. Wir haben darüber in Folge 33 berichtet, aber leider hat bisher wohl niemand aus unserem Leserkreis einen Hinweis geben können, denn die Gemeinde Schlachtensee hat sich nicht wieder gemeldet.
Das dürfte bei unserem nächsten „Fund‘“ wohl anders sein, denn da werden wenigstens der Name und die ehemalige Anschrift genannt. Auch wenn die Mitteilung auf Umwegen zu uns gelangte, dürften die wenigen Angaben doch genügen, um eine Spur zu finden. Geschrieben hat uns Frau Andrea Leiber aus München im Auftrag einer Bekannten, deren Familienangehörige diesen Fund gemacht haben – damals zwei Jahre nach Kriegsende und Flucht. In der Kleinstadt Lübz in Mecklenburg entdeckten sie in einer Mauernische ein Buch, das sich als ein Lehrbuch der Christlichen Wissenschaft erwies. Der Titel „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“ deutet darauf hin, dass es sich um ein Lehrbuch zur Ausübung von Unterweisungen handelt, das rege im Gebrauch gewesen sein muss, wie die zahlreichen Unterstreichungen und Vermerke des Besitzers vermuten lassen. Dieser gläubige Mann hat sich mit Namen und Anschrift eingetragen: Anton Daus, Königsberg, Königseck 9. „Ließe sich vielleicht auf diesem Weg das Schicksal von Anton Daus ein stückweit rekonstruieren?“, fragt Frau Leiber und hofft, dass sich Nachkommen oder andere Familienangehörige von Herrn Daus melden, die dieses Erinnerungsstück gerne besitzen würden. Da Herr Daus wohl einer christlichen Glaubensgemeinschaft angehörte, wie zu vermuten ist, könnte sich auch heute noch eine Spur finden lassen. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist das Buch auf der Flucht vor den russischen Eroberern in Sicherheit gebracht worden und konnte dann nicht mehr aus dem Versteck geholt werden. Zuschriften sind an Frau Leiber zu richten, die weitergehende Fragen allerdings nicht beantworten kann. Sie ist aber bereit, den Kontakt zu ihrer Bekannten herstellen. (Andrea Leiber, Osserstraße 34 in 81679 München, E-Mail andreafoto@t-online.de)
Eure Ruth Geede