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03.11.17 / Keine Revolution, sondern ein Putsch / Vor 100 Jahren griff eine kleine, hochentschlossene Gruppe bolschewistischer Verschwörer in Petrograd nach der Macht

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 44-17 vom 03. November 2017

Keine Revolution, sondern ein Putsch
Vor 100 Jahren griff eine kleine, hochentschlossene Gruppe bolschewistischer Verschwörer in Petrograd nach der Macht
Wolfgang Kaufmann

In der kommunistischen Geschichtsschreibung wurde die „Große Sozialistische Oktoberrevolution“ stets als Aufstand der unterdrückten Massen Russlands hingestellt. Tatsächlich handelte es sich bei den Ereignissen ab dem 25. Oktober 1917 nach russischer beziehungsweise julianischer sowie dem 7. November nach gregorianischer Zeitrechnung um den Putsch einer kleinen, hochentschlossenen Gruppe bolschewistischer Verschwörer. 

Nach der Februarrevolution von 1917 (siehe PAZ Nr. 9), mit der die Zarenherrschaft in Russland geendet hatte, rang die sozial-liberale Übergangsregierung unter Alexander Kerenskij mit den Arbeiter- und Soldatenräten (Sowjets) um die Macht im Lande. Dabei neigte sich die Waagschale bald zugunsten der Räte. Wichtige Weichenstellungen für die Zukunft wurden in dieser Situation vom 2. Allrussischen Sowjetkongress erwartet, der am Abend des 25. Oktober beziehungsweise 7. November zusammentreten und über die Bildung einer Koalitionsregierung unter Einschluss von Sozialrevolutionären, Menschewiki und Bolschewiki beraten sollte. Doch die lag nicht im Sinne des bolschewistischen Führers Wladimir Iljitsch Uljanow alias Lenin. Der war kurz zuvor mit deutscher Hilfe aus seinem Exil in der Schweiz zurückgekehrt und arbeitete konsequent auf die Alleinherrschaft der von den Bolschewisten dominierten Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (Bolschewiki) hin. Deshalb redete Lenin auf das Zentralkomitee der Partei am 27. September beziehungsweise 10. Ok­tober geschlagene zehn Stunden lang ein, bis es seine Staatsstreichpläne schließlich mit nur zwei Gegenstimmen absegnete.

Die Durchführung des gewaltsamen Umsturzes oblag Lew Bronstein alias Leo Trotzki. Der Vorsitzende des Petrograder Sowjets formierte umgehend ein Militärisch-Revolutionäres Komitee (MRK), das aus Soldaten der hauptstädtischen Garnison und Matrosen der Kronstädter Marine sowie Mitgliedern der Roten Garden, einer bewaffneten Arbeitermiliz der Bolschewiki, bestand. Die allermeisten dieser höchstens 30000 „Revolutionäre“ wussten dabei nicht, wofür sie eigentlich Leib und Leben riskierten. Sie gingen davon aus, dass sie zur Verteidigung des Petrograder Sowjets gegen einen Angriff von „Rechts“ antraten, statt im Dienste der keineswegs rundum beliebten Bolschewiki zu agieren.

Der Putsch begann am 25. Ok­tober beziehungsweise 7. November um 2 Uhr morgens mit der Besetzung wichtiger strategischer Punkte in Petrograd wie Bahnhöfen, Kraftwerken, Brücken, Post- und Telegraphenämtern sowie der Reichsbank. Außerdem belagerten Trotzkijs Truppen das Winterpalais, also den Sitz der amtierenden Regierung Kerenskij. Diese wurde am Vormittag durch eine Bekanntmachung des MRK für abgesetzt erklärt. Trotzdem war Kerenskij noch nicht zur Aufgabe bereit. Immerhin rückten inzwischen mehrere ihm loyale Infanterie- und Kosakendivisionen in Richtung der russischen Hauptstadt vor, um die Rebellion niederzuschlagen. Deshalb erging um 18 Uhr ein Ultimatum an die Provisorische Regierung und die Verteidiger des Winterpalais, das Gebäude zu räumen und sich zu ergeben. Andernfalls würden die Geschütze der Peter-und-Pauls-Festung sowie einige Kriegs­schiffe auf der Newa das Feuer eröffnen.

Weil daraufhin keinerlei Reaktion erfolgte, gab das Buggeschütz des Kreuzers „Aurora“ um 21.40 Uhr einen blinden Signalschuss ab, der die Erstürmung des Winterpalais und die Verhaftung der Regierung Kerenskij mit Ausnahme des Ministerpräsidenten selbst, der nach Peskow entkam, einleitete. Dabei lief beides sehr viel weniger dramatisch ab, als es der elf Jahre später uraufgeführte, übertrieben heroisch daherkommende Film „Ok­tober“ des Regisseurs Sergej Eisenstein suggerierte. Es gab sechs Gefallene, dazu gingen zwei Fensterscheiben zu Bruch. Letztlich verursachten die Dreharbeiten für den Streifen größere materielle Schäden an dem Zarenpalast als dessen Einnahme 1917. 

Am selben Tag hatte um 22.40 Uhr im Smolny der 2. Sowjetkongress begonnen. Die Nachrichten aus der Stadt sorgten sofort für einen heftigen Eklat und zahlreiche Delegierte der Menschewiki und Sozialrevolutionäre verließen aus Protest den Saal, was Trotzkij mit den höhnischen Worten quittierte: „Ihr seid klägliche Bankrotteure, eure Rolle ist ausgespielt. Geht dorthin, wohin ihr gehört: auf den Kehrichthaufen der Geschichte.“ Anschließend stimmten die verbliebenen Deputierten für die Bildung einer Koalitionsregierung aus Bolschewiki und Linken Sozialrevolutionären unter der Führung Lenins. Damit war dessen Putschplan voll und ganz aufgegangen. Seine Machtergreifung wurde um 5 Uhr morgens des darauffolgenden Tages mit einem Aufruf „An die Arbeiter, Soldaten und Bauern“ offiziell bekanntgemacht.

Die neuen Führer Russlands nannten sich „Rat der Volkskommissare“ und verabschiedeten unverzüglich zwei Dekrete, die ihnen die Zustimmung der Massen einbringen sollten: das Dekret über den Frieden sowie das Dekret über Grund und Boden.

Klar denkende Personen wie der Schriftsteller Maxim Gorkij sahen sofort die drohenden negativen Konsequenzen des Umsturzes voraus: „Die Arbeiterklasse wird begreifen müssen, dass Lenin auf ihrer Haut und mit ihrem Blut nur ein Experiment macht. Die Arbeiterklasse muss wissen, was sie erwartet! Hunger, völlige Zerrüttung der Industrie, Zerstörung des Transportnetzes, dauernde, blutige Anarchie …“

Und tatsächlich lösten die Ereignisse in Petrograd eine Welle der Gewalt aus. Nach der landesweiten Plünderung der Schnapsläden tobte der betrunkene Mob. Das wiederum bot mit Anlass zur Gründung der „Außerordentlichen Allrussischen Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution, Spekulation und Sabotage“, kurz „Tscheka“ genannt, die aber vorrangig das Bürgertum attackierte. Getreu der Forderung Lenins nach „Säuberung der russischen Erde von allem Ungeziefer, von den Flöhen – den Gaunern, von den Wanzen – den Reichen“. Deshalb dauerten die Exzesse der marodierenden Banden aus Arbeitern und Soldaten noch bis zum Sommer 1918 an. Parallel hierzu begann ein Bürgerkrieg gegen „konterrevolutionäre Elemente“, in dessen Verlauf die Bolschewiki ihre Macht bis Juni 1923 über nahezu das gesamte vormalige Zarenreich ausdehnen konnten.