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10.11.17 / Eine deutsche Musterstadt in China / Vor 120 Jahren besetzte das Deutsche Reich erst die Kiautschou-Bucht und pachtete sie dann für 99 Jahre

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 45-17 vom 10. November 2017

Eine deutsche Musterstadt in China
Vor 120 Jahren besetzte das Deutsche Reich erst die Kiautschou-Bucht und pachtete sie dann für 99 Jahre
Ingo Sommer

Nachdem Konteradmiral Otto von Diederichs am 14. November 1897 die Kiautschou-Bucht durch das Ostasiengeschwader hatte besetzen lassen, konnte das Deutsche Reich endlich den Reigen der pazifischen und afrikanischen Kolonien um eine asiatische ergänzen. Als erste fremde Macht rang es China ein Pachtgebiet ab. Darauf projektierte es eine vorbildliche Planstadt nach europäischen Städte­baumustern und wilhelminischen Architekturleitlinien. 

Tsingtau (grüne Insel), so nannten die deutschen Marineangehörigen ihren neuen Stützpunkt am Gelben Meer. 700 deutsche Soldaten hatten leichtes Spiel, das Fischerdorf mit seinen 2000 chinesischen Soldaten zu okkupieren. Als daraufhin der 99-jährige Vertrag mit China abgeschlossen wurde, war Mao Tse-tung gerade fünf Jahre alt. Im gleichen Jahr vereinbarte auch England einen 99-jährigen Pachtvertrag über die „New Territories“ vor seiner Kronkolonie Hongkong. 1997 hätten die Deutschen, so wie die Briten es taten, ihr Pachtgebiet an China zurückgeben müssen. Eine merkwürdige Vorstellung.

Die Besetzung von Tsingtau hatte naheliegenderweise ihre Vorgeschichte. Gebildete deutsche Stände waren seit dem 18. Jahrhundert chinaverliebt. Jesuiten brachten erste Nachrichten, Reisende Porzellan und Seidenmalerei aus Ostasien mit. Kolonialvereine organisierten nach dem Zweiten Opiumkrieg von 1857 bis 1860 Niederlassungsmöglichkeiten für deutsche Kaufleute. 2500 deutsche Missionare bekehrten 60000 Chinesen zum Christentum. Allerdings war China technisch rückständig, bezog Waffen von Krupp und Schiffe von Vulcan. Bescheidene Seehäfen wurden eingerichtet, so 1891 im abgelegenen Tsingtau. 

Dessen Inbesitznahme hatte das Deutsche Reich gut vorbereitet. Marinegründer Prinz Adalbert hatte schon 1848 die deutsche Flagge in den chinesischen Gewässern gefordert. 1869 hatte der Geograph Ferdinand von Richthofen China bereist und die Bucht von Kiautschou als deutschen Stützpunkt empfohlen. Starke Strömung sollte dem geplanten Hafen, ähnlich Wilhelmshaven, Eisfreiheit bescheren, zusätzlich gute Deckung und Schutz vor Stürmen. Die Kohlevorräte für die modernen Dampfschiffe lagen ganz in der Nähe. Admiral Eduard von Knorr wurde 1895 von Kaiser Wilhelm II. als Chef des Oberkommandos der Marine nach Berlin versetzt und bekam den Auftrag, genauere Pläne zur Übernahme des Kiautschou-Gebietes zu entwickeln. Konteradmiral (Contreadmiral) Alfred Tirpitz, ab 1897 Staatssekretär des Reichsmarineamts, gab dem langjährigen Kieler Marinehafenbaudirektor Georg Franzius den Befehl, die chinesischen Küsten zu erkunden und die Bucht von Tsingtau zu vermessen. 

Wilhelm II. reagierte auf die Ermordung deutscher Missionare am 1. November 1897, indem er die Bucht 13 Tage später besetzen ließ. Der Kaiser, auch wenn er selbst niemals in Tsingtau war, wollte sein „deutsches Hongkong“ und unterstellte das neue Pachtgebiet unmittelbar der Marine. 

Aber dem für die Neugründung von Tsingtau zuständigen Reichsmarineamt fehlte die stadtplanerische Erfahrung für ein derartig riesiges Projekt. Das neue Gebiet umfasste 553 Quadratkilometer Landfläche und ebenso viel Wasserfläche, dazu die 50-Kilometer-Zone. Balduin Emil Rechtern, Vortragender Rat im Reichsmarineamt, musste mit seinen Baubeamten und Architekten die technische Planung übernehmen und umsetzen. Vorbild war der 1861 von James Hobrecht entworfene hochmoderne Berliner Gesamtbebauungsplan, der wiederum auf die rechtwinkligen spätklassizistischen Fluchtlinienpläne von Berlin-Kreuzberg und -Moabit von Karl Friedrich Schinkel und Peter Joseph Lenné zurückging. 

Der heutige Tsingtaubesucher erwartet in der Altstadt farbenprächtige Pagodenarchitektur, entdeckt aber Satteldächer, Fachwerkgiebel, Sprossenfenster, Balustraden, Türmchen, Stuckornamente und Natursteinverblendungen. Repräsentativbauten, Stadtvillen, Kirchen, Krankenhäuser, Schulen und Hafenanlagen aus der deutschen Epoche belegen die Einflüsse kaiserlicher Marinebaubeamter. Die Baukunst in der ehemaligen Garnisonstadt sollte deutsches Lebensgefühl und außenpolitisches Selbstbewusstsein ausdrücken. Mildes Klima, weltläufiges Seebadflair, lange Sandstrände, aber auch prächtige Alleen, bewaldete Bergkuppen und lauschige Täler hielten die Sehnsucht zur Heimat wach. 

Die auf die Marinearchitekten George Gromsch und Karl Strasser zurückgehenden Bebauungspläne von Tsingtau waren nach Nutzungsarten und Bevölkerungsgruppen gegliedert, ohne Hinterhöfe, ohne Mietskasernen, ohne Hygienemängel. Stattdessen gab es durchlüftete, aufgelockerte, gründurchzogene Blockstrukturen in einem modularen System, das nach Bedarf aufgefüllt werden konnte. Das war ein Vorgriff auf den fortschrittlichen Städtebau des 20. Jahrhunderts mit seinen Funktionstrennungen. Besonders aufwändig war die „Europäerstadt“ entworfen: individuell gestaltet, herausgehoben repräsentativ, angenehm durchgrünt und auf das südlich angrenzende Meeresufer mit seinen Strandpromenaden, Hotels und Geschäftshäuser bezogen. Parallel hierzu verliefen das Kaiser-Wilhelm-Ufer sowie die Prinz-Heinrich-, Irene- und Kronprinzen-Straße. Von der Strandpromenade nach Norden laufen Kieler-, Friedrich-, Albert-, Wilhelm- und Bismarck-Straße. Die „Chinesenstädte“ lagen in den isoliert aufgebauten Vororten Tapautau, Taitungtschen und Taisitschen.

Die militärische und zivile Gewalt lag in der Hand von nacheinander fünf aus Berlin nach Tsingtau entsandten Gouverneuren, die allesamt Kapitäne zur See waren. An ihren Bauten mussten sie nicht sparen, schließlich repräsentierten sie Macht und Einfluss, Modernität und Zukunft, Weltgeltung und Kultur. So wurde Kiautschou  zur teuersten Kolonie des Deutschen Reiches. Die Gouvernementverwaltung, das Gericht, die Gouvernementpolizei, das Zollamt und vor allem die prachtvolle Gouverneurresidenz stehen noch heute als prachtvolle Monumentalbauten an bedeutsamen Stellen der Stadtgeometrie und symbolisieren vergangenen Nationalstolz.

Für die Marinesoldaten bauten die deutschen Architekten 1899 bis 1909 drei aufwendige Kasernenanlagen: Iltis-, Bismarck- und Moltke-Kaserne, dazu Stabsgebäude, Seemannshaus, Marinewaschanstalt und ein Lazarett. Die stilvollen Garnisongebäude sind fast alle erhalten. 

Eine Besonderheit waren die opulenten und verschwenderisch ausgestatteten Villen am Diederichs- und Hohenlohe-Weg, am Auguste-Viktoria-Ufer und in der Nähe der Pferderennbahn. Sie waren am englischen Landhausstil orientiert. Hier wohnten die Deutschen: Marineoffiziere, Gouvernementpfarrer, Richter, Beamte, Bauunternehmer, Zollbedienstete, Kaufleute und Lokalprominenz.

Den 2400 deutschen Soldaten und 2000 Zivilisten in Tsingtau sollten auch deutsche Kultur und Bildung geboten werden und möglichst auch den 200000 Chinesen. Der Evangelische Kirchenausschuss Berlin ließ 1908 bis 1910 für die Zivilgemeinde und die Garnison auf einem Hügel östlich der Bismarck-Straße die Christuskirche im Jugendstil bauen. Der Bau der neoromanischen katholischen St.-Michael-Kathedrale verzögerte sich bis in die 1930er Jahre. Es entstanden mehrere Gouvernements- und kirchliche Schulen, sogar Berufsschulen und eine Hochschule. In Aussehen und Funktion waren sie Abbild typisierter preußischer Schulgebäude. Darüber hinaus existierten wohl an die 200 chinesische Schulen.

Eine Spitzenleistung damals neuester Ingenieurskunst wurde der 1904 fertiggestellte, 240 Hek­tar große Hafen mit seinen Molen, Brücken, Docks, Kais, Werften und Kränen. Eisenbahnbauten verbanden ihn mit den Kohlegruben in der Provinz Schantung. Zur hochmodernen Infrastruktur zählten auch Bahnhof, Observatorium, Schlachthof, Postbauten, Elektrizitätswerk, Kanalisation, Trinkwasserversorgung und Straßenbau.

Zwei Welten stießen 1897 aufeinander: Die 4000-jährige chinesische Tradition und die Baukultur des erst ein Vierteljahrhundert alten Deutschen Reiches. Schon 17 Jahre später erfasste der Erste Weltkrieg Ostasien. 56000 Japaner und 1500 Briten belagerten vom 13. September bis zum 7. November 1914 die mit 4300 Soldaten weit unterlegene Marinegarnison Tsingtau. Die Niederlage war vorhersehbar, denn Tirpitz hatte nur neun Landbefestigungen und Küstenbatterien genehmigt. Die Ostasienflotte war machtlos und versenkte sich selbst. Nach dem Fall von Tsingtau gerieten Gouverneur Alfred Meyer-Waldeck, seine Beamten und mit ihnen 5000 reichsdeutsche und österreich-ungarische Soldaten und Zivilisten bis 1920 in japanische Gefangenschaft. 200 waren gefallen und wurden auf dem deutschen Friedhof von Tsingtau begraben. 1930 wurde ihnen ein Denkmal gesetzt, doch die chinesische Kulturrevolution fegte es mitsamt den Grabsteinen hinweg. Der Mythos Tsingtau aber hatte lange Nachwirkungen.