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10.11.17 / Als die deutsche Schrift »jüdisch« wurde / Das Sütterlin, dessen Namensgeber vor 100 Jahren in Berlin starb, brachte Ordnung in das Buchstabenchaos

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 45-17 vom 10. November 2017

Als die deutsche Schrift »jüdisch« wurde
Das Sütterlin, dessen Namensgeber vor 100 Jahren in Berlin starb, brachte Ordnung in das Buchstabenchaos
Klaus J. Groth

Im Januar 1941 erreichte alle deutschen Ministerien ein Rundschreiben vom Obersalzberg, das für Kopfschütteln sorgte. Es ging um Sütterlin, die Schrift, die alle Deutschen schrieben. Der Absender war das willige Sprachrohr Adolf Hitlers, der Leiter der Partei-Kanzlei, Martin Bormann. Mit Datum 3. April teilte er zum Sütterlin Folgendes mit: „Die sogenannte gotische Schrift als deutsche Schrift anzusehen oder zu bezeichnen ist falsch. In Wirklichkeit besteht die sogenannte deutsche Schrift aus Schwabacher Judenlettern … Am heutigen Tag hat der Führer entschieden, … dass die Antiqua-Schrift künftig als Normal-Schrift zu bezeichnen sei.“ Weiter erging sich Bormann in hergeholten Erklärungen, warum das Sütterlin, eine Frakturschrift, die auch als „Deutsche Schrift“ bekannt war, plötzlich als jüdisch von Hitler verboten wurde. Nach Erfindung des Buchdrucks hätten sich Juden der lukrativen Druckereien, so Bormann, bemächtigt und Frakturschriften wie das Sütterlin im ganzen Reich verbreitet. 

Dass der Erfinder des Sütterlin, Ludwig Sütterlin, eine einwandfreie arische Abstammung vorweisen konnte, störte nicht weiter. Auch dass er die Reformschrift 1911 im Auftrag des Königlich-Preußischen Kultusministeriums entwickelt hatte – mehr Deutsch ging nicht – war dem Führer wohl unbekannt. Historiker vermuten, dass Hitler sich, befeuert durch die militärischen Erfolge seiner Armee, bereits kurz vor dem Endsieg wähnte und eine von ihm persönlich diktierte Schrift im künftigen Großdeutschland einführen wollte, wie er sich auch von Albert Speer „seine“ neue Hauptstadt planen ließ.

Das Preußische Kultusministerium hatte gute Gründe gehabt, eine neue Schrift entwerfen zu lassen. In den Klassenzimmern des Reichs herrschte das reine Buchstaben-Chaos. Den Kindern wurden unterschiedliche Schriftarten beigebracht, ganz nach Geschmack und Vorliebe der Lehrer. Am weitesten verbreitet war eine Fraktur, wie sie in England geschrieben wurde. Bei dieser Kurrentschrift, deren Bezeichnung vom lateinischen  „currere“ (laufen) kommt, neigen sich die Buchstaben schräg nach rechts, als würden sie gleich umfallen.  „Schön schreiben“ zu lernen war ein wichtiger Teil des Unterrichts, mit Kreide an der Tafel sicher ebenso ein Kunststück wie mit den Federkielen und Tinte. Als die starren Stahlfedern Ende des 19. Jahrhunderts aufkamen, nahm die Kleckserei noch zu. Sütterlin, Professor für Grafik und Kunstschrift an den Vereinigten Staatsschulen für freie und angewandte Kunst in Berlin, sollte eine Einheitsschrift entwerfen, die künftig an allen Schulen Preußens gelehrt werden musste. 

Der Auftrag des Kultusministeriums war ebenso  ehrenvoll wie heikel. Seit dem Mittelalter wurde in Deutschland über die „richtige“ Schrift gestritten. Die Befürworter der Fraktur und die der Antiqua standen sich unversöhnlich gegenüber. Ein Mythos umgab die Schrift. Oberlängen und Unterlängen, runden und kantigen Buchstaben wurden (und werden) bestimmte Charaktereigenschaften des Schreibenden zugeordnet. Die Schrift sollte sogar Ausdruck der Volksseele sein.

 Gut ein Dutzend Pädagogen und Schriftexperten standen Sütterlin bei der Entwicklung der neuen Buchstaben zur Seite. Die Schrift sollte eine Variante in Fraktur und „kinderfreundlicher“ werden, klarer und leichter zu schreiben. Sütterlin half dem Alphabet in die Vertikale, er stellte es von A bis Z senkrecht auf eine Linie. Das wie gehäkelt wirkende Schriftbild erscheint heute altmodisch, die Kringel und Schwänzchen, die bauchigen Vokale mögen den Kindern damals gefallen haben. Das Projekt war bereits nach vier Jahren abgeschlossen, und die nach ihrem Erfinder Sütterlin benannte neue Einheitsschrift wurde 1915 an allen Schulen in Preußen eingeführt. 1930 entschlossen sich die Kultusministerien der anderen deutschen Länder, Sütterlin ebenfalls einzuführen. Sie wurde allgemein als Deutsche Schrift bezeichnet.  Noch bis in die 1960er Jahre hinein schrieben ältere Menschen in Sütterlin.

Ludwig Sütterlin wurde 1865 in Lahr im Schwarzwald geboren und kam als junger Mann nach Berlin. Als Lieblingsschüler seines renommierten Lehrers, des Künstlers Emil Doepler, fand er schnell Zugang zur Berliner Kunstszene. Seinen ersten bedeutenden Auftrag erhielt er von Emil Rathenau, dem Gründer der Deutschen Edisongesellschaft, später umbenannt in die Allgemeine Elektricitätsgesellschaft, die AEG-Werke in Berlin. Rathenau hatte dem Amerikaner Thomas A. Edison Lizenzen für die Produktion von Glühbirnen abgekauft. Nun suchte er ein aussagekräftiges Markenzeichen für sein Unternehmen. Ganz im Geschmack der Zeit entwarf Sütterlin ein Logo mit einer germanischen Göttin, die eine Glühbirne hoch über ihrem Kopf präsentierte. Rundherum zuckten Blitze. Wie der Blitz schlug auch das Markenzeichen ein. Die naturalistisch dargestellte Dame, von zwei Schwanenschwingen flankiert, war von der Hüfte aufwärts nackt. Durchschlagenden Erfolg hatte auch Sütterlins Plakat für die Berliner Gewerbeausstellung 1896. Es zeigt eine Faust, die sich aus der aufbrechenden Erde reckt und einen schweren Hammer hält. Das Plakat ist im Besitz des Deutschen Historischen Museums Berlin. Darüber hinaus entwarf der vielfach Begabte Art-Deco-Vasen und -Gläser, Vorlagen für Lederarbeiten und Buchschmuck wie für die Festausgabe zum 500. Geburtstag von Johannes Gutenberg.

Sütterlin ist heute Lehrstoff einiger Studiengänge. Die Kenntnisse werden zur Entschlüsselung von Dokumenten und Schriftwerken aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gebraucht.  Die Sütterlinstube in Hamburg hilft, wenn Familien Feldpost des im Krieg gefallenen Großvaters oder Urgroßvaters entdeckt haben, die Jahrzehnte lang unbeachtet auf dem Dachboden lag. Die Transkription ist nicht nur für die Angehörigen, sondern auch für die Ehrenamtlichen der Sütterlinstube ein bewegendes Erlebnis.