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10.11.17 / Lewe Landslied, liebe Familienfreunde,

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 45-17 vom 10. November 2017

Lewe Landslied, liebe Familienfreunde,

dass sie schwer krank war, wusste ich, denn das hatte mir ihr Mann Joachim Rudat bereits mitgeteilt, als er mir zu meinem 101. Geburtstag im Namen der Landsmannschaft der Ost- und Westpreußen in Uetersen gratulierte. Nun ist Ilse Rudat gestorben, und mit ihrem Tod verlieren wir Ostpreußen eine vitale und ideenreiche Frau, deren Liebe zur Heimat nie erlosch, die sie selber immer wieder anfachte. Unsere Verbindung bestand über Jahrzehnte hinweg von ihrer Seite mit der Aufforderung zu Lesungen und Vorträgen – und von meiner Seite mit deren Erfüllung, denn in Uetersen zu lesen machte einfach Freude. Sie und ihr Mann hatten eine homogene Gruppe aufgebaut, die in und um Uetersen so beliebt war, dass ich immer wieder über die große Anzahl der Teilnehmer nur staunen konnte. Unter denen sich nicht nur geborene oder gebürtige Ostpreußen befanden, denn die von ihr geleiteten Veranstaltungen boten vor allem älteren Teilnehmern viel Abwechslung und waren immer sorgfältig geplant. Bei der Gestaltung kamen ihr die eigenen Kenntnisse und Ideen zugute – bei der Publizierung in der örtlichen Presse ihre Begabung zum Schreiben. Ihre Berichte waren nicht nur auf Ostpreußen beschränkt, sondern enthielten auch aktuelle Beiträge über andere kulturelle Veranstaltungen. Ihr zur Seite ihr Mann Joachim, der in seiner ruhigen Art und mit fundiertem Wissen dem Energiebündel oft Paroli bot, aber gerade diese Diskussionen erhöhten noch den Reiz der Treffen in dem schönen Fachwerkbau Ueterst End im Schatten der alten Klosterkirche. Es waren anheimelnde aber auch anregende Stunden in heimatlicher Atmosphäre, die ich nicht missen möchte. Dass ich sie mit erfüllen konnte dankte mir die Gruppe mit der Ernennung zum Ehrenmitglied. Als ich wegen meines Alters die Lesungen aufgab, hatte sich durch die beginnende Krankheit von Ilse schon einiges verändert, allerdings nicht in der Programmgestaltung, denn Joachim Rudat hatte die Leitung übernommen und führte die Arbeit nahtlos weiter. Nach jeder Lesung hatte sich Ilse mit einem großen Rosenstrauß bedankt – schließlich war man ja in der Rosenstadt Uetersen mit dem weit bekannten Rosarium – und das Foto von uns beiden erschien dann auch regelmäßig in der örtlichen Presse. Diese Aufnahmen haben für mich einen großen Erinnerungswert. Aber einen größeren hat die Hortensie in meinem Garten, denn einmal hatte Ilse den Rosenbrauch unterbrochen und mir die Hortensie geschenkt mit der Bemerkung: Die soll wachsen, dann hast Du immer eine Erinnerung an mich. Heute hat sie sich zu einem prächtigen Busch entwickelt und so erfüllen sich Ilses Worte. Eine Ostpreußin hat ja gerne Erde unter den Füßen und an den Händen. Ilse war eben eine echte Marjell aus Lyck, die unter Flucht, Vertreibung und in dänischer Isolierung sehr gelitten hatte. Aber sie hat die Heimat mitgenommen, bewahrt und weitergegeben. Deshalb hat Joachim Rudat die Worte von Hermann Hesse als Trauerspruch gewählt: „Heimat ist in Dir … oder nirgendwo.“

Er trifft wohl auf alle Landsleute zu, die mir schreiben, denn aus ihren Anliegen geht hervor, dass die Heimat für sie unvergessen blieb. Dabei handelt es sich nicht nur um Suchwünsche oder ungeklärte Fragen – manchmal sind es nur wenige Zeilen, aus denen vor allem bei den Älteren die Liebe zu ihrer Kinderheimat ersichtlich wird. Manchmal sind einige alte Fotos beigelegt, die trotz Krieg und Flucht gerettet werden konnten, und selbst wenn es nur eine alte Ansichtskarte von einem kleinen Ort ist, in dem es keine besonderen Merkmale gibt, regen sie zum Nachdenken an. So wie die Kopie einer Ansichtskarte von Grünhof im Kreis Ebenrode, die uns Frau Ursula Kutzinski aus Bad Bevensen zusandte. Sie zeigt – wie damals üblich bei Ansichtskarten aus ländlichen Gebieten – vier Aufnahmen, die ein Gesamtbild von dem nur 125 Einwohner zählenden Dorf ergeben. Man sieht keine Kirche, kein prägnantes Gebäude, kein Denkmal – aber ein stattliches Gasthaus mit Kolonialwarenhandel, die Försterei, eine langestreckte Ortsrandsiedlung und eine Dorfpartie, auf der aber die ländlichen Gebäude im Hintergrund bleiben, denn den meisten Platz nimmt ein großes Feld ein, und das besagt: Das weite Land bestimmt hier das Leben. So gehen Ursula Kutzinskis Heimaterinnerungen vor allem an dieses Dorf zurück obgleich ihr Geburtsort Absteinen war, wo sie 1936 als Ursula Eggert zur Welt kam. Aber in Grünhof lebten ihre geliebten Großeltern, und so wurde es zu ihrem Kinderparadies, das sie als Achtjährige verlassen musste. Alt genug, um Erinnerungen zu speichern, die sie nun hervorholte, um sich an uns zu wenden, denn einen kleinen Wunsch hat sie doch. Es geht um ihren Großvater, der die Flucht nicht überlebte. Er muss ein fröhlicher, lebenslustiger Mensch gewesen sein, denn Frau Katzinski besitzt noch ein Foto, das den wohlbeleibten Herrn bei einem guten Trunk mit einem wesentlich schlankeren Herrn zeigt. Großvater ging nicht auf die Flucht, als der grenznahe Kreis geräumt wurde, er wollte und konnte seinen Hof nicht verlassen und nahm sich das Leben. Seine Tochter soll ihn, nachdem er sich erschossen hatte, im eigenen Garten begraben haben. Auch die Großmutter überlebte nicht die Flucht. Es blieben für Ursula die Erinnerungen an die schönen Tage in Grünhof, die sie nun hervorholt, um ihre Bitte an unsere Leser und Leserinnen vorzutragen: Wer kannte Grünhof und kann über dieses Dorf etwas aussagen, war vielleicht sogar auf dem Hof der Großeltern und kann sich noch an ihren Großvater erinnern? Gibt es auch Schriftliches über Grünhof? (Ursula Kutzinski, Röbbeler-Str.14.C. in 29549 Bad Bevensen.)

An dieser alten Ansichtskarte berührt mich vor allem die Aufnahme, die eine der für Ostpreußen typischen Chausseen zeigt, eine dieser stillen Landstraßen, die von Irgendwoher kommen und nach Irgendwohin führen. Gehen wir in Gedanken zurück: Es ist November, weit dehnt sich das Braun der Äcker, es ist zugepflügt, die Wintersaat in die Erde eingebracht. Aber die Stille dieses Spätherbsttages wird unterbrochen durch das Rollen der Räder der Leiterwagen, die vollgepackt sind mit Umzugsgut, denn zu Martini wird gezogen. Der 11. November ist der Tag, an dem das Gesinde auf den Höfen wechselt. Es wird „Märtin gemacht“ – ein Brauch, der sich noch bis zum 1. Weltkrieg in Ostpreußen erhalten hatte. Das Verdingen hatte schon vorher stattgefunden, jetzt erfolgt der Stellenwechsel für die Ledigen, aber auch für die Instleute, die mit der ganzen Familie zu ihrer neuen Bleibe ziehen – mit ihrem gesamten Hab und Gut im Stroh: Kasten, Bett, Tisch und Stühle. Und mit vielen Pungels und Züchen, die mit Kleidern, Wäsche und Hausrat prall gefüllt sind. Denn es sind ja kinderreiche Familien, und der Nachwuchs muss ernährt werden. Da erhofft man sich von dem neuen Arbeitsplatz bessere Bedingungen als von der alten Hofstelle. Umsonst hat man ja nicht „Märtin gemacht“.

Warum diese Ausführungen, die nicht nur dem Martinstag gelten, sondern sich auch auf Fragen beziehen, die an unsere Ostpreußische Familie gestellt werden. Weil manche Nachfahren, die sich mit ihrer Familiengeschichte befassen, nicht mit den unterschiedlichen Geburtsorten ihrer Eltern oder Großeltern und deren Geschwister zurechtkommen. Wie Herr Udo Hildebrandt, dessen Anliegen wir in Folge 30 brachten. Vermittelt durch Herrn Rainer Claaßen, LO-Landesgruppe Bayern, der seinem Eisenbahnerkollegen helfen will, Familienangehörige von August Hildebrandt, *1891 in Ellernbruch, zu finden. Es handelt sich um eine Großfamilie, denn allein neun Namen sind dem Suchenden bekannt, sieben verschiedene Geburtsorte werden angegeben, von denen einige im Kreis Gerdauen liegen. Wahrscheinlich handelt es sich um eine Instfamilie, die öfters „Märtin“ machte – jedenfalls ist die Bezeichnung „Wanderarbeiter“, die mir vorgegeben wurde, in diesem Fall nicht angebracht. Durch den dauernden Ortswechsel der Familie muss sie einen großen Bekanntenkreis gehabt haben, und auf diesen setzte ich meine Hoffnung, aber weder bei Udo Hildebrandt noch bei uns tat sich etwas. Bis wir aus unserem Leserkreis zwei Anschriften bekamen, die in mir die Alarmglocken weckten: Beide Namen stimmten mit zwei von uns aufgeführten überein, Hinweise auf die ostpreußische Heimat der beiden Genannten verstärkten diese Vermutung. Ich habe mich zuerst einmal mit Herrn Rainer Claaßen in Verbindung gesetzt und ihn gebeten, Herrn Hildebrandt zu informieren, denn Herr Claaßen hatte ja als Vermittler die Sache ins Rollen gebracht. Wenn die Angaben stimmen – was meiner Ansicht nach wohl nicht zu bezweifeln ist – hätte Udo Hildebrandt zwei Geschwister seines Vaters gefunden. Das wäre mal wieder ein kleines Familienwunder.

Es tut sich im Augenblick überhaupt so einiges durch Kontakte unserer Leserinnen und Leser untereinander, das Mitfühlen und Mitdenken ist groß, die tätige Hilfsbereitschaft auch. Ein kleines Beispiel zum Abschluss unserer heutigen Kolumne: Auf der Suche nach Informationen über den Verbleib seiner in Königsberg verbliebenen Tante Ursula Kowski legt Herr Rüdiger Schaub den Schwerpunkt immer wieder auf das Haus Selkestraße 13, in dem die Familie wohnte. Zwar hat sich noch niemand der ehemaligen Nachbarn bei ihm gemeldet, aber Herr Peter Perrey, der ihm Informationen über das Gebäude in seinem jetzigen Zustand und die veränderte Lage im heutigen Straßennetz vermittelt. Das gesamte Viertel, in dem die Selkestraße – russisch ulitsa Malyj pereulok – lag, wurde umgestaltet. Aber immer noch steht das Haus Nr.13, dominierend in seiner Größe und reich gegliederten Fensterfront, und es ist auch das Obergeschoss auszumachen, in dem die achtköpfige Familie Kowski wohnte. Vielleicht hilft dieses Foto weiter, dass sich noch andere Bewohner an das Haus erinnern.

Eure Ruth Geede