23.04.2024

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10.11.17 / Wegbereiter für folgende Generationen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 45-17 vom 10. November 2017

Wegbereiter für folgende Generationen
Dagmar Jestrzemski

Der Begriff „Kriegsenkel“ hat sich mittlerweile fest etabliert. Mehrere Psychotherapeuten und Sozialforscher veröffentlichten Essays und Bücher über die Generation der Kriegsenkel und familiär vererbte Traumata als Folge von Krieg und Vertreibung. Ein weiterführender Beitrag hierzu ist das neue Buch von Joachim Süss mit dem Titel „Die entschlossene Generation. Kriegsenkel verändern Deutschland“. Der 1961 geborene evangelische Theologe, Dozent und Autor aus Erfurt gehört einem kleinen Kreis von Kriegsenkel-Spezialisten an, die sich, wie er es formuliert, die Aufarbeitung des Elends zur Aufgabe gemacht haben, das die NS-Zeit in den Seelen der Nachgeborenen angerichtet hat. 

Die Kriegsenkel-Generation wird den geburtenstarken Jahrgängen zwischen 1960 und 1975 zugeordnet, den sogenannten Babyboomern. Längst sitzen die jetzt 40- bis maximal 60-jährigen Menschen an den Schalthebeln der Macht. „Sie prägen unser Land, indem sie ihren Wunsch nach Aussöhnung und Verständigung beharrlich in die Gesellschaft tragen“, ist im Klappentext zu lesen. 

Die Eltern der Kriegsenkel gehören zur Generation der Kriegskinder („die vergessene Generation“). Ihr Leid kompensierten sie still durch Härte und eine Überbetonung von Wohlstand und Erfolg. Durch diese Haltung verunsichert, fehle einem nicht geringen Teil ihrer Kinder, den Kriegsenkeln, ein tragfähiges Lebensfundament, so die Auffassung der Forscher. Nicht selten entwickelten sie diffuse Ängste, ein Empfinden von Heimatlosigkeit oder Schuldgefühle. Auch das Thema Kinderlosigkeit betreffe viele Kriegsenkel, erklärt Süß. 

Obwohl die Zuordnungen zu bestimmten Jahrgängen unscharf sind, zieht er unter den Nachgeborenen eine Grenze zwischen den sogenannten 68ern, also den Jahrgängen zwischen 1945 und 1960, und den Kriegsenkeln. Die 68er hätten die Gelegenheit gehabt, ihre Väter und Mütter für deren Handlungen oder ihr Mitläufertum zu kritisieren, argumentiert er. Die Kriegs­enkel dagegen seien mit den Wirkungen solcher Erfahrungen konfrontiert gewesen. Die Folge: „Ihr Weg führte nicht auf die Straße, sondern nach innen.“ 

In seine Exkurse über die zeithistorischen Tendenzen der Nachkriegsjahrzehnte bringt Süss persönliche Erinnerungen als Kind einer schlesisch-stämmigen Mutter ein sowie Momente der Bewusstwerdung seiner eigenen Trauma-Geschichte. Selbst ein Kriegsenkel, formuliert er tiefgreifende Erkenntnisse: „Unsere unmittelbaren Vorfahren, die Gesellschaft, in der wir aufwuchsen, sie haben Kräfte des Lebens blockiert, sehr zu unseren Ungunsten, indem sie die Verbindung mit der Vergangenheit austrockneten, jedenfalls jene Teile der Geschichte, die für das Verständnis der eigenen Biografie wichtig gewesen wären.“ Die deutsche Erfahrung im Osten war ein Hauptereignis der deutschen Geschichte. Der Umgang damit sei auf deutscher sowie polnisch/

tschechischer Seite unzulänglich gewesen. 

Kriegsenkel forschten in ihrer Familiengeschichte, setzten sich mit dem Heimatverlust ihrer Eltern und deren Kriegsvergangenheit auseinander. Einige gründeten Selbsthilfegruppen. Die Gesamtzahl derer, die sich mit dem Thema beschäftigen, liegt nach Schätzungen des Autors im sechsstelligen Bereich. Den Kriegsenkel-Weg, der auch zu den Orten in den Ostgebieten führt, bezeichnet er als „Heldenreise“. Er münde in einen heilsamen Selbsterfahrungsprozess und erbringe Klarheit über die eigene Existenz. Das Konzept der Heldenreise hat die Psychotherapie der Märchen- und Mythenforschung entlehnt. Süss nimmt ausführlich Bezug darauf. Die Heldenreise der Kriegsenkel führe „durch das Dunkle, auch das Böse hindurch“, erklärt er. Am Ende erkennen sie, was im Bereich der eigenen Verantwortung liege und was nicht: „Schuld darf zurückgewiesen werden für Dinge, die man nicht selbst verschuldet hat.“ Er ist überzeugt: Wenn die Kriegsenkel aus dem Traumaschatten hinaustreten, werden sie zu Pionieren für sich und andere, auch zu Wegbereitern für nachfolgende Generationen. 

Es lohnt sich, dieses kluge und ungewöhnliche Buch aufmerksam zu lesen.

Joachim Süss: „Die entschlossene Generation. Kriegsenkel verändern Deutschland“, Europa Verlag, Berlin, München, Zürich, Wien 2017, gebunden, 247 Seiten, 18,90 Euro